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Rede zur Verabschiedung des
Abiturjahrganges 2006

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste,
liebe Eltern!

Liebe Schülerinnen und Schüler!

Als Herr Visser mich fragte, ob ich nicht die Ansprache zur Verabschiedung der Abiturienten halten könnte, habe ich spontan zugesagt. Ich dachte so etwa „jaa, das hast du ja schon mal gemacht und wird nicht so schwierig sein!“
Allerdings ist meine letzte Abiturrede ziemlich genau 22 Jahre her und war bei meiner eigenen Verabschiedung als Abiturient im Jahr 1984.

Ich habe also zu Hause als erstes unsere alte Abi-Rede herausgekramt, die noch wohlbehalten in meiner eigenen Abizeitung lag, auf die wir damals so stolz waren.

Deckblatt der Abizeitung

Im Gegensatz zu dem hier – (ABI-ZEITUNG 2006) – hatten wir natürlich kein Vorwort des Schulleiters.
(Auch war es uns gar nicht in den Sinn gekommen, die Abi-Zeitung vor dem Verkauf vom Schulleiter genehmigen zu lassen.)

– Verweichlichte Jugend von heute könnten böse Zungen nun sagen. –

Absichtlich hatten wir den Verkauf erst bei unserer feierlichen Verabschiedungsveranstaltung begonnen, weil wir dachten, dass sich dann der Schulleiter nicht trauen würde den Verkauf in der Schule zu verbieten; denn im Allgemeinen waren wir der Meinung, die wir auf der Rückseite der Zeitung manifestierten:

Rückseite der Abizeitung

Wir hatten zu einer Generalabrechnung ausgeholt, mit der Schule und der Gesellschaft, die versucht hatte uns zu erziehen.

Waren wir doch als Reformkinder als Erste der Orientierungsstufe, der wieder eingeführten 11 Klasse und anderen sog. Schulverbesserungen zum Opfer gefallen. Die Auflagen für die Belegung von Religion und Sport als Prüfungskurse waren uns völlig unverständlich. Mündliche Prüfungen und Abiturklausuren waren viel zu schwer, und das beste an der Schule waren der Kursunterricht, die Kurspartys und die Studienfahrten.

– Kurz: es war irgendwie wie heute auch, da hat sich nicht so viel geändert. –

Aber vielleicht gab es doch noch ein paar Dinge, die anders waren.

Wir wollten uns nicht von bequemen Krawattenträgern unsere Zukunft kaputt machen lassen.

Der Kalte Krieg war voll im Gange; die Zeit von Wehrdienst und Zivildienst wurde verlängert und wir waren der Meinung, dass das politische Establishment oder das Bürgertum im allgemeinen Schuld an der Gefährdung unserer Existenz und Zukunft wären.

Ab 1983 begann man nach dem Nato-Doppelbeschluss ausschließlich in Deutschland Atomraketen (sog. Pershing II) zu stationieren.

Selbst der ev. Kirchentag 1983 in Hannover hatte die Losung „Umkehr zum Leben“. Auf den Veranstaltungen gab es keine Schwarz-Rot-Goldnen Fußballfahnen, sondern ein Meer von lila Friedenstüchern. „Pershing II ab ins Klo“ und „Petting statt Pershing“ waren unsere Schlachtrufe.

Wir schwänzten fast geschlossen die Schule um gegen die Stationierung der Pershing- Atomraketen zu demonstrieren.
Da unserer Meinung nach auch die Lehrer nicht genug taten, gründeten wir in der Oberstufe einen Arbeitskreis Frieden, der Friedenslesungen während der Pausen veranstaltete und durch Filme wie „Wargames“ oder Atomic Café“ aufrütteln wollte.

Die frühen 80er Jahre waren eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Der Punk war nach Deutschland gekommen und in Hannover schlugen sich bunt aussehende, schlecht angezogene Menschen bei den Chaostagen mit der Polizei.
Leerstehende Häuser wurden besetzt um gegen spekulativen Wohnungsleerstand und Wuchermieten zu protestieren.
Zum Grausen meiner Eltern gewann die Musik der Neuen Deutschen Welle (Nena, Marcus, Trio) gegen den deutschen Schlager mit seinem „blau, blau blüht der Enzian“ in den Hitparaden.
New Wave Frisuren wie sie heute Tokio Hotel tragen, waren noch kein einheitlicher Modetrend, sondern von uns geschaffen, als Protest gegen die Krawattengesellschaft.

Einige Jahre vorher waren in Soweto in Südafrika waren hunderte von schwarzen Schülern, die gegen Afrikaans als Unterrichtssprache in der Schule protestierten, von weißen Polizisten erschossen worden.
An der sog. Berliner Mauer wurden immer noch Menschen bei der Flucht in den Westen getötet.
In der Schule gab es Zivilschutzkurse, in denen man lernte, wie man sich u. a. im Falle eines Atomangriffes zu verhalten hätte.

Aber der Untergang des Abendlandes war für viele unserer Eltern und Großeltern schon mit der Bundestagswahl 1983 eingeleitet; mit 5,6% der Zweitstimmen waren „Die Grünen“ erstmals in den deutschen Bundestag eingezogen. (Dass der Frankfurter Sponti Joschka Fischer, der noch auf der Frankfurter Startbahnwest saß, einmal Außenminister und Professor werden könnte, hätte niemand zu glauben gewagt.)

Für uns war „Big Brother“ keine Fernsehsendung, sondern eine Angstvision aus George Orwells bezeichnendem Zukunftsroman 1984. Und auch meine Schule hatte einen hochmodernen Computer, den Apple II mit 1,023 Mhz Prozessor und 4 Kb Ram. Gespeichert wurde auf dem modernsten Speichermedium der Zeit, einem Kassettenrecorder.

So sahen wir unsere Freiheit und Selbstbestimmung in Gefahr. Schließlich sangen auch Bands wie „Ton, Steine, Scherben“ Lieder mit Titeln wie „Keine Macht für Niemand“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“.
Die Band New Order veröffentlichte die erfolgreichste Vinyl-Maxi Single aller Zeiten mit dem Titel „Blue Monday“, eine Auskopplung aus dem Album „Power, Corruption & Lies“.

Kurz gesagt, wir meinten nun bei unserer Abi-Verabschiedung die Chance nutzen zu müssen, unsere Eltern und Lehrer wachzurütteln.

Unsere Abi-Rede hielten wir zu viert auf einem Podium ähnlich wie hier. Und als wir die Rede beendet hatten, gab es eine betroffene Stille und entsetzte Gesichter. Dann erst fingen einige unserer Mitschüler an zu klatschen.
Der Bürgermeister sagte, dass er das etwas anders erwartet hatte, und unser Schulleiter verteilte die Auszeichnungen für die Abiturienten mit einem Hinweis darauf, dass er das nach unserer Rede eigentlich gar nicht mehr hätte tun wollen.

Für viele Eltern gab es sicherlich nur die eine Frage: „Wie konnte es nun dazu kommen? – Wer ist Schuld daran?“

Vielleicht ist das Naheliegende das Richtige. Schuld daran waren sicherlich wieder einmal die Lehrer.

Im Unterricht lasen wir vor allen Dingen Friedrich Dürrenmat, Heinrich Mann und immer wieder Berthold Brecht.
Dabei wollte gerade dieser mit seinen Werken gesellschaftliche Strukturen durchschaubar machen, und vor allem in Hinsicht auf ihre Veränderbarkeit betrachten. Literarische Texte sollten für ihn einen Gebrauchswert, einen Nutzen haben.
In anderen Fächern wie in Religion war es nicht anders. Es ging um das Verhältnis von Kirche und Staat und den Widerstand im Dritten Reich. Wir lasen Texte von Barth, Bonnhoeffer und dem damaligen Präsidenten der „Deutschen Friedensgesellschaft“ Martin Niemöller.

Ich muss jedoch meine damaligen Lehrer in Schutz nehmen.

Ich denke, dass unsere Lehrer in gutem Glauben und nach ihrem beruflichen Bildungsauftrag gehandelt haben, der in § 2 des niedersächsischen Schulgesetzes festgelegt ist.

Ich zitiere hier etwas in Auszügen:

„Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden,

(...) Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. (...) Die Schülerinnen und Schüler sollen zunehmend selbständiger werden und lernen, ihre Fähigkeiten auch nach Beendigung der Schulzeit weiterzuentwickeln.“

Nun stehen Sie an diesem Scheidepunkt, liebe Abiturienten, an dem Sie diese Schule verlassen. Sie haben gar keine andere Wahl, denn das Wort Abitur kommt vom lateinischen Wort abire = davongehen!

Nun wird es sich erweisen, welche Früchte aus Ihrer Schulzeit und unserem Unterricht erwachsen.

Ich hoffe sehr, dass niemand von den Eltern nun Angst bekommen hat, was denn die Lehrer des TGG aus ihren armen Kindern gemacht haben könnten.
Aber vielleicht sind wir als Lehrer oder Sie als Eltern im einen oder anderen Falle doch überrascht darüber, was denn aus den „Kleinen“ nun so geworden ist.

Wie wird nun Ihre Zukunft aussehen, liebe Abiturienten und Abiturientinnen? Wird das so sein, wie sich das erträumen, oder wie sich das Ihre Eltern erhoffen? …
Sicherlich gibt es bei vielen noch Zweifel oder auch Ängste, oder Orientierungslosigkeit, wie die Zukunft weitergehen soll. Was soll ich studieren? Was mache ich, wenn ich keinen Studienplatz bekomme? Ist das für mich das Richtige etc. … werden Sie vielleicht denken. Vielleicht fragen Sie sich auch nach dem Sinn Ihres Abschlusses, dem Sinn Ihrer Zukunft oder Ihrer Existenz überhaupt?

Wenn Sie diese Fragen und Zweifel haben, dann freuen Sie sich – nicht nur, weil auch Joachim Deutschland in seinem Grußwort zu Ihrer Abi-Zeitung auf den Zweifel hinweist.
(Wobei ich keinerlei Ahnung habe, wer das ist!)

Freuen Sie sich; seien Sie – um es mit Peter Lustig (den wiederum kenne ich) zu sagen – etwas unreif,

denn der Zweifel steht am Anfang aller Erkenntnis.

Zumindest formuliert dies der Mathematiker und Philosoph René Descartes 1637 in seinem wohl bekanntesten Werk – das er extra populärwissenschaftlich so geschrieben hat, dass auch Damen es lesen könnten –:

«Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la Dioptrique, les Météores et la Géométrie qui sont des essais de cette méthode»
Wörtlich übersetzt heißt der Titel etwa: „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie als Versuchsanwendungen dieser Methode“

Nach Descartes erschöpft sich die Methode des philosophischen Denkens in 4 Regeln:

  1. Nichts für wahr halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann.
  2. Schwierige Probleme in Teilschritten erledigen.
  3. Vom Einfachen zum Schwierigen fortschreiten.
  4. Stets prüfen, ob bei der Untersuchung Vollständigkeit erreicht ist.

Seine neue Erkenntnistheorie führt Descartes in seinen sechs „Meditationes de prima philosophia“ von 1641 weiter aus.

Hier formuliert er konkret, dass man auch dem Denken nicht ungeprüft vertrauen dürfe, denn ein böser Dämon könnte so auf einen einwirken, dass man zu falschen Schlüssen kommt und sich täuscht. Deshalb ist zunächst einmal an allem zu zweifeln. Aber gerade das Zweifeln ist für ihn der unbezweifelbare Beweis dafür dass wir denken, und wenn wir denken, dann sind wir. … Der erste unbezweifelbare Satz heißt damit für Descartes: «Je pense donc je suis» – „Ich denke, also bin ich“ – COGITO ERGO SUM.

Descartes macht den Zweifel und damit das Denken zur Grundlage aller Erkenntnis (und Frage nach Gott und Sinn und so weiter).

So lassen Sie sich denn in einer Reihe mit Descartes, Peter Lustig und Joachim Deutschland von mir auffordern zu zweifeln.

Zweifeln Sie zunächst einmal an allem, was Sie während Ihrer Schulzeit gelernt haben.
Zweifeln Sie natürlich auch an den guten Ratschlägen, die Ihnen ein Anfang-40er hier vom Podium aus gibt.

Zweifeln Sie aber bitte auch, wenn Menschen Ihnen erzählen, dass es nötig ist mit einem Panzer in ein anderes Land zu fahren (wie es mal wieder vor 3 Tagen geschehen ist).
Zweifeln Sie bitte, wenn Sie hören, dass Menschen gefoltert werden und Bomben gebaut werden.
Zweifel Sie, wenn Kinder von ihren Eltern gequält und wenn Bären erlegt werden.
Zweifeln Sie, wenn Ihr Freund nach drei Bier neben Ihnen am Steuer des Autos sitzt oder von einem Motorboot das Altöl in die Ems abgelassen wird.
Zweifeln Sie, wenn Gene verändert werden und die Luft durch Abgase verpestet wird.
Zweifeln Sie, wenn Steuern erhöht und Studiengebühren erhoben werden.
Zweifeln Sie, wenn jemand Ihnen erzählt, dass ein Urlaub am Ballermann das Schönste in Ihrem Leben ist.
Und zweifeln Sie auch, wenn jemand Ihnen erzählt, dass Ingenieur zu sein oder Arzt oder Architekt oder Schauspieler oder Lehrer der beste Beruf der Welt ist oder ein Beruf ist, den man auf gar keinen Fall ergreifen darf – zweifeln Sie.

Denn wenn Sie daran zweifeln, heißt das, Sie denken, Sie denken vielleicht sogar darüber nach. Das heißt vielleicht auch, dasss Sie nicht alles so hinnehmen und sich manipulieren lassen, sondern selbstständig eine eigene, begründete und verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen können.

Und wenn das so ist, dann würde zumindest ich mich glücklich schätzen, dass ich für viele von Ihnen einer Ihrer Lehrer sein durfte.

Auf Ihrem zukünftigen Lebensweg wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen alles Gute.

Leer, den 01.07.2006

Ulf Rott, StD

2006-07-14,