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Rede anlässlich der Verabschiedung der Abiturientinnen und Abiturienten am Teletta-Groß-Gymnasium Leer
am 21. Juni 2013

Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr verehrte Gäste, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Abiturientinnen und Abiturienten!

Als ich in Ihrem Alter war, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, lasen wir ein Gedicht von H. M. Enzensberger. Es stand in einem der Lesebücher, die damals noch so schöne hermeneutisch angehauchte Titel trugen wie „Wort und Sinn“ oder „Begegnungen“.

Das Gedicht heißt „ins lesebuch für die oberstufe“ und geht so:

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:
sie sind genauer, roll die seekarten auf,
eh es zu spät ist, sei wachsam, sing nicht.
der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor
schlagen und malen den neinsagern auf die brust
zinken, lern unerkannt gehen, lern mehr als ich:
das viertel wechseln, den pass, das gesicht,
versteh dich auf den kleinen verrat,
die tägliche schmutzige rettung. nützlich
sind die enzykliken zum feueranzünden,
die manifeste: butter einzuwickeln und salz
für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,
in die lungen der macht zu blasen
den feinen tödlichen staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.

Uns Schülern, die sich sehr sehr kritisch empfanden, schien der Fall eindeutig. Hier gab es einen Schriftsteller, der klare Kante zeigte, und einen unmissverständlichen Appell an uns richtete. Dieses Gedicht war uns natürlich hochwillkommen. Wir waren mit der ersten, noch naiven Lesart zufrieden, erst einmal. Dann aber – mehr so nebenbei und mit anderen – kamen die ersten Zweifel an unserer Lesart. War H. M. Enzensberger nicht ein gefeierter Schriftsteller, Essayist und vor allem Lyriker. Und der will uns das Lesen von Gedichten und Singen von Liedern verbieten? Und die Erkenntnis widerrufen, wonach gerade Literatur und Kunst es seien, die dem Menschen zu kritischer Distanz zu Ding und Welt verhalfen. Nun gut, irgendwie komisch. Wir gingen also auf kritische Distanz. Diesem Zweifel schloss sich später eine weitere dritte Lesart an. Wir betrachteten den Text noch einmal und uns drang ins Bewusstsein – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass dieser Text ein Gedicht war, zwar modern, aber trotzdem in überstrukturierter Art, wie es Gedichte nun einmal an sich haben. Wir mussten erkennen: Der Autor unterläuft seine ach so eindeutige, doch auch problematische Botschaft selbst, denn gesetzt, er wolle wirklich seinen Appell „lies keine oden, mein sohn …“ loswerden, so konnte dies ja nur gelingen, indem Schüler sein Gedicht und nicht Fahrpläne lasen. Form unterminiert Eindeutigkeit – so hieß unser Befund.

Ich will hier diesen Ausflug in die Vergangenheit nicht weiter ausführen, Ihnen aber die Situation erläutern: Alle kulturellen Objektivationen, also alles, was der Mensch von sich aus schafft, Wissenschaft, Kunst, Literatur, Architektur, Technik, kommen daher in Gestus und Manier der Eindeutigkeit und verlangen zunächst einmal vom Rezipienten Unterwerfung. Dies ist ihnen vom Schöpfer – sei er nun Dichter, Forscher, Künstler – eingeschrieben. Der Zweifel wird nicht mitgeliefert. Fontane setzte lakonisch dagegen: Es gibt nichts Reines. Und wehe wir beugen uns sogleich und gehen selbstzufrieden von dannen! Gefordert ist vielmehr eine reflexiv-widerständige Lektüre/Rezeption der Gestalt gewordenen geistigen Arbeit der Menschen. Man kann diese wiederholten Lektüren im modernistischen Jargon dekonstruktivistisch nennen. Ich wähle dafür das Wort „widerständig“ und möchte Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auffordern, diese Art des Lesens in der Begegnung mit besagten kulturellen Objektivationen zu Ihrem Habitus zu machen. Widerständige (subversive) Lektüren unterscheiden sich von Kritik von außen in dem Maße, wie wir in einem Text – und dieser Begriff ist im allgemeinsten Sinne zu verstehen – immanente Widersprüche, Risse, Unbestimmtheiten, die ihn geradezu ausmachen, aufdecken und gegen diesen selbst richten, nicht um das Werk zu vernichten, sondern um es zu verstehen. Der Grundstein dafür – Bildung und Vernunft – ist Ihnen in dieser Schule gelegt worden. Vernunft: einmal zur Abwechslung nicht von oder mit Kant definiert, sondern gesprochen von dem Philosophen Odo Marquard und schön paradox formuliert: Vernunft ist der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben.

Ich komme nun zur Anwendung meiner Überlegungen.

Seit den 80er Jahren erleben wir nun die Ausgestaltung und Entwicklung einer Objektivation, die Ihr Leben schon ziemlich intensiv bestimmt. Sie wissen, worauf ich anspiele. Auf die Informationstechnologien und Ihre Inhalte. Wir haben uns den Entwicklungsprozess dieser technischen Erfindung – vereinfacht gesagt des Internet – nach Meinung des Zukunftsforschers Ray Kurzweil als einen unaufhaltsamen evolutionären Prozess vorzustellen mit exponentiellem Wachstum und mit eigener Ordnung. Alles, was Ihnen medial-digital-virtuell entgegentritt als Websites, Apps, Mails, Tweets, Blogs, SMS, Videos auf youtube, posts auf facebook, tritt Ihnen entgegen im oben erwähnten Gestus und in der Manier der Eindeutigkeit. Anpassung wird erst einmal von Ihnen verlangt. Der „Gefällt-mir-button“ kann symbolisch gesehen werden für dieses Verlangen. Gibt es eigentlich einen button „gefällt mir nicht“? Fragen wir uns an dieser Stelle einmal, worin das Faszinierende der modernen Informationstechnologien eigentlich liegt, so können wir nüchtern die üblichen Gründe anführen: permanente Verfügbarkeit von Informationen weltweit, weltweites Einkaufen, weltweite Kontaktpflege in Form sog. sozialer Netzwerke, Hören und Sehen von Musik und Filmen, pure Schnelligkeit der Übermittlung, spontanes Reagieren. Und die Tatsache, dass jedermann Produzent digitaler Elaborate sein kann, dies, wenn es sein muss, völlig unbeleckt von kulturellen, ästhetischen und sprachlichen Normen. Über die Gefahren, die Ihrer informationellen Selbstbestimmung, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, drohen, will ich an dieser Stelle nicht viel sprechen. Nur soviel: Marc Zuckerberg, der Erfinder von facebook, verkündete schon 2010 das Ende aller Privatheit. Auch der Ihrigen!?, liebe Abiturientinnen und Abiturienten!? Dazu nur noch ein Stichwort: Prism!

Sprechen will ich zu Ihnen aber über die Frage, in welcher Tiefenschicht liegt das, was Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, und andere junge Menschen an der Nutzung der IT so fasziniert. Ich meine, das Faszinierende liegt im Virtuellen, im Immateriellen, in der reinen Simulation von Wirklichkeit und damit in den letztlich grenzenlosen Operationen mit und an dieser Technik. Ein Text auf einem Blatt Papier stellt etwas Reales dar, Operationen an ihm sind nur in beschränktem Maße möglich. Ein Klick dagegen, und ein Text, ein Bild erscheint vor unseren Augen, noch ein Klick und es lebt nur noch als Algorithmus im Chip, noch ein Klick und es erscheint auf Ihrem smart-phone, Ihrem i-pad, auf Ihrem Monitor, und noch ein Klick und sie verlinken diesen Text mit anderen Texten. Und immer haben wir den Eindruck ein Bild oder Bilder vor uns zu haben. In der Visualisierung des Virtuellen für einen Moment liegt das Verführerische der modernen Medien. In meinen Augen ist es dieser Spielcharakter, der den Menschen so in Bann schlägt. Nach einem berühmten Satz von Schiller, ist der Mensch bekanntlich da ganz frei, wo er spielt. Die modernen Informationstechnologien suggerieren dank ihrer Virtualität und Simulation und Visualisierung die Freiheit des Spiels. In Wirklichkeit verlangt die digitale virtuelle Welt von Ihnen Unterwerfung, Anpassung, Konformität und sie konditioniert Sie dazu, wenn Sie auf widerständige Lesarten verzichten. Und hier schlage ich noch einmal den Bogen zum Anfang meiner Rede: Ich wiederhole meinen Appell an Sie: Seien Sie widerständig-subversiv. Unterziehen Sie die digitalen Simulationen von Realität wiederholten subversiven Lektüren und machen Sie aus dahergekommener Eindeutigkeit Vieldeutigkeit. Vieldeutigkeit ist nicht nur ein hermeneutischer Gewinn, aus geistiger Bequemlichkeit belassene Eindeutigkeit stellt eine Gefahr für Ihre Freiheit als Individuum in unserer Gesellschaft dar, weil Sie dadurch dümmer und verführbarer werden.

Lassen Sie mich in zwei Schritten zum Schluss kommen. 1. Schritt: Ich sagte, Vieldeutigkeit sei ein Gewinn. Immer dann, wenn eine Gesellschaft diese für unerträglich gehalten hat, gab es Krieg, Terror, Unterdrückung. Stichwort: Fundamentalismus. Das beste Medium – neben Ihnen als klugem Kopf –, Vieldeutigkeit zu gewinnen und mit ihr fruchtbar umzugehen, ist das Gespräch mit anderen. Im geselligen Diskurs können Sie Bedeutung und Bedeutsames für sich selbst und andere gewinnen. 2. Schritt: Neben dem Begriff der Vernunft und des geselligen Diskurses greife ich noch einmal den Begriff der Bildung auf, denn ohne Bildung funktionieren widerständig-subversive Lektüren nicht. Selbst das unter strengsten Methoden gewonnene Wissen, das – formelhaft repräsentiert – als instrumentelles und operatives Fachwissen daherkommt, hat noch Anteil an unserer allgemeinen Sprache und kann nur ausgetauscht und vermittelt werden im Akt der menschlichen Rede – d. h. narrativ. Fachwissen wird stets und immer wieder zu narrativem Wissen umgeschaffen, es muss dazu werden, damit es für Sie und mich, für uns alle nicht verloren geht. Und nur in dieser Form der narrativen Anverwandlung wird Wissen zu Bildung. Und die ist – neben Vernunft und Diskurs – die Grundbedingung für die Freiheit, für Ihre Freiheit vor dem Computer. Mit dieser kleinen (großen?) Freiheit wäre schon sehr viel gewonnen. Wenn wir nicht gerade metaphysisch gestimmt sind, gehen wir ohnehin davon aus, dass wir kaum verlässliche Aussagen machen können, über die Welt, den Menschen, die Natur, die Wahrheit, die Freiheit. Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, müssen selbst entscheiden, für welche Freiheiten (Plural!) Sie eintreten und kämpfen wollen. Denn es könnte sein, dass die Freiheit die Summe vieler Freiheiten ist.

Als Letztes bleibt mir noch, Ihnen ein gelingendes Leben zu wünschen, im Beruf und Studium, in Partnerschaften, Freundschaften und Familie. Im Gespräch bleiben mit anderen heißt über ein wirkliches soziales Netzwerk verfügen. Ich wünsche Ihnen auch Wohlstand und auch Mut zu kleinen „Fluchten“: Gönnen Sie sich etwas Schönes, zum Essen, zum Anziehen, zum Wohnen, auf Reisen, am besten zusammen mit jenen Menschen, die Sie lieb haben.

Alles Gute.

Alf Hase

2013-06-23,