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Besuch von Herrn Eli de Leeuwe

Im Lichte der Menora

Am 17.12.2009 besuchte uns der Holocaustüberlebende Eli de Leeuwe zusammen mit seiner Frau in unserem Seminarfach „Eine Blume namens Heimat“ unter der Leitung von Frau Lax und Frau Hensmann im Rathaussitzungssaal in Leer. Herr de Leeuwe ist gebürtiger Niederländer und jüdischer Herkunft. Er ließ uns teilhaben an den Erinnerungen seiner Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus. Ihm ist es wichtig zu verhindern, dass ein Geschehen wie zu Zeiten des Nationalsozialismus wieder vorkommt, und er tritt dafür als Vermittler der Generationen auf.

Eli de Leeuwe im Gespräch mit den Schüler/innen des Seminarfaches

Eine andächtige Atmosphäre schuf die Menora (jüdischer Leuchter), die Herr de Leeuwe uns mitbrachte, sowie sein traditionelles Auftreten. Seine Erzählweise war sehr ruhig und gewählt und es war zu hören, dass er den Deutschen und der heutigen Jugend sowie Gott keinerlei Vorwürfe über das Geschehene macht. Ohne einen Anflug von Bitterkeit sagte er, dass man sich die Hände reichen müsse, und zeigte dadurch seine Bereitschaft zur Vergebung auf.

Eli de Leeuwe wurde 1938 in der Umgebung von Winschoten (Niederlande) geboren. Er hatte einen älteren Bruder. Im Jahre 1942 wurde er in eine Pflegefamilie gegeben. Unmittelbar danach wurden seine leiblichen Eltern in das Konzentrationslager Westerbork und später nach Sobibor gebracht. Seine Mutter war gezwungen, ein Jahr in Westerbork zu bleiben, bis sie nach Sobibor deportiert wurde. Sein Vater hingegen wurde direkt in das Konzentrationslager geschickt. Beide fanden hier den Tod.

2008, 66 Jahre nach diesen traumatischen Erlebnissen, heiratete er seine Frau in Westerbork. Vermuten lässt sich, dass er diesen Ort wählte, weil seine Familie dort zerrissen wurde und er sie so wieder zusammenführen wollte. Nun, im Jahre 2009, ist er der Einladung der Stadt Leer und des TGGs gefolgt, um den nachfolgenden Generationen von seiner Familiengeschichte zu berichten.

Die verlorene Kindheit

„Man kann ein Kind aus dem Krieg holen, aber wie holt man den Krieg aus dem Kind?“ Eli de Leeuwe

Herr Eli de Leeuwe spricht bei seinem Besuch in Leer sehr offen über seine traurige und dramatische Kindheit …

Geburt und Beschneidung

Er wurde im Jahr 1938 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Winschoten geboren und nach jüdischer Tradition nach drei Tagen beschnitten. Das Ritual war für die religiöse Identifikation unabdingbar, zugleich war die Beschneidung aber auch ein Erkennungsmerkmal, welches den Jungen im Dritten Reich in Todesgefahr bringen konnte. Um das Leben ihres Kindes vor den Nationalsozialisten zu retten, sah sich Eli de Leeuwes leibliche Mutter 1942 gezwungen, den damals vierjährigen Sohn in die Obhut einer christlichen Familie zu geben.

Der Kontakt war durch die evangelische Kirche vor Ort zustande gekommen. Mitglieder der christlichen Gemeinde, die bereit waren, ein jüdisches Kind in der Not aufzunehmen, meldeten sich, um zu helfen. Auf diese Weise wurde auch Eli de Leeuwes Bruder vor den nationalsozialistischen Schergen geschützt. Auch er sollte mit dem Leben davon kommen; doch hatte die Rettung ihren Preis. Sie bedeutete nicht nur den Abschied von den leiblichen Eltern für immer, sondern zog die Trennung die Geschwister nach sich, denn der Bruder wurde von einer anderen christlichen Familie aufgenommen. Beide Familien mussten zur Sicherheit unterschiedliche Fluchtwege antreten; jeglicher Kontakt zwischen den Brüdern wurde unterbunden.

Rettung in der Not

Eli de Leeuwes Pflegeeltern waren im Widerstand tätig. Sie waren bereit, sich selbst zu gefährden und einen jüdischen Jungen zu adoptieren. Hier sollte das Kind die Sicherheit und den Schutz für die nächsten Kriegsjahre bekommen, die ihm letztlich das Leben retteten. Denn kaum war das Kind in die Obhut von Fremden gegeben worden, wurden die leiblichen Eltern abgeholt und in das Konzentrationslager Westerbork gebracht.

Seine Mutter war gezwungen, ein Jahr in Westerbork zu bleiben, bis sie nach Sobibor deportiert wurde. Sein Vater hingegen wurde direkt in das Konzentrationslager geschickt. Beide überlebten die Shoah nicht; Eli de Leeuwe hatte im Alter von vier Jahren Mutter und Vater zum letzten Mal gesehen.

Die Erinnerungen an die Eltern sind spärlich. Sein Vater war ein in sich gekehrter, introvertierter Mann gewesen. Er hatte ursprünglich als Diamantenschleifer gearbeitet; später war er als Hutreiniger tätig, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten.

Seine Mutter war eine glückliche, lebensfrohe Person, die viel lachte. Herr de Leeuwe erinnert sich noch heute an die Lebensfreude, die sie versprühte, wenn sie ihre Kinder mit Reibekuchen bekochte. Der Geruch von Kartoffelpuffer erweckt bei ihm heute noch Gefühle der Geborgenheit und Heimat. Bestimmte Düfte und Musik lösen bei ihm schöne Erinnerungen aus. Er denkt gerne an ihr Klavierspiel zurück und glaubt ihre musische Begabung geerbt zu haben. Herr de Leeuwe war selbst viele Jahre als Organist tätig. So lebt seine Mutter in seiner Erinnerung in ihm weiter.

Ein Leben auf der Flucht in einem fremden und isolierten Umfeld

An das Leben auf der Flucht gemeinsam mit den Pflegeeltern kann Eli de Leeuwe sich noch ganz genau erinnern. Er musste ständig im Versteck bleiben; er durfte nie das Haus verlassen, was er aber nicht verstand bzw. als kleiner Junge nicht verstehen konnte; der Grund war ihm ebenfalls zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Durch das ganze Versteckspiel fühlte er sich oft einsam. Er hatte kaum Bekanntschaften mit Gleichaltrigen und konnte keine Freundschaften schließen, da seine Familie immer auf der Flucht von einem Unterschlupf zum nächsten zog und sich nicht lange an einem Ort aufhielt. Er durfte nur zwei Gegenstände mitnehmen. Er entschied sich für zwei Spielzeugautos, die er heute noch besitzt. Er erhielt den Namen Eduard und wurde fortan christlich erzogen. Ihm wurde nahegelegt, sich zur evangelischen Religion zu bekennen. In dieser Situation sah er keine andere Alternative als sich taufen zu lassen, obgleich er den Akt als Zwang empfand. Erst nach Jahren erfuhr er von seinen Pflegeeltern, dass der Grund für das Leben im Versteck seine jüdische Herkunft war. Eli de Leeuwe konnte seinen Pflegeeltern nie verzeihen, dass ihm seine eigene Identität verschwiegen wurde.

Einmal hatte er beim Radfahren mit seiner Pflegemutter Juden mit dem Rest ihrer Habseligkeiten während ihrer Deportation gesehen. Die Zusammenhänge waren ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht klar geworden; wohl begriff er, dass die Juden unterdrückt wurden, die dramatische Vernichtungsmaschinerie wurde ihm viel später schmerzhaft bewusst.

Vom Verlieren und Wieder-Finden der religiösen Identität

Die Erlebnisse im Krieg, der Verlust der Eltern, die Trennung vom leiblichen Bruder, die Isolation und das ständige Leugnen der eigenen Identität hatten einen traumatischen Effekt auf Eli de Leeuwe, der bis zum heutigen Tag unter den psychischen Folgewirkungen wie Schlafstörungen leidet. Trotz ärztlicher Behandlung reißen die Alpträume nicht ab.

In der Hoffnung Antworten auf seine Fragen zu finden und womöglich einen „Schlussstrich unter der Vergangenheit“ ziehen zu können, reiste Eli de Leeuwe in den 70er Jahren zur Gedenkstätte Sobibor. Doch die erhoffte Erlösung blieb aus. Es gebe da keine Antworten; das Land sei mit Blut durchtränkt, die Luft schwer zum Zerschneiden, so Eli de Leeuwe. Nach einer Stunde habe er wieder abfahren müssen. Er habe in Kenntnis der tatsächlichen Geschehnisse in der Vernichtungsstätte den Ort nicht ertragen können. Den einzigen Halt habe er in seinem jüdischen Glauben wiedergefunden.

Noch gravierender erlebte sein Bruder die Jahre der Verfolgung und das Verleugnen der eigenen Herkunft und Religion. Da er älter und reifer war, erkannte er die Zusammenhänge, wollte sich gegen die Zwangsmissionierung wehren und hegte zeit seines Lebens einen Groll gegenüber seinen Pflegeeltern. Bis zu seinem Tode spürte er nur Hass für die Deutschen, die ihm und seiner Familie Unrecht und Leid angetan hatten.

„Man kann ein Kind aus dem Krieg holen, aber wie holt man den Krieg aus dem Kind?“

Geschichtlicher Hintergrund

Von der Annexion der Niederlande

Aufgrund ihrer Neutralität im I. Weltkrieg hatten die Niederlande keine Gegenmaßnahmen für einen deutschen Angriff getroffen. Deshalb war es den deutschen Eindringlingen ziemlich einfach gewesen, am 10. Mai 1940 einzumarschieren. Einen Tag nach der Bombardierung Rotterdams am 14. Mai folgte die Kapitulation des Landes. Königin Wilhelmina und hochrangige Politiker flohen nach London ins Exil. Die Regierungsgewalt lag nun bei den antijüdischen Besatzern. Auch von der NSB (die National-Sozialistische-Bewegung in den Niederlanden), der einzigen erlaubten Partei, wurden antijüdische Aktionen durchgeführt.

Das Durchgangslager Westerbork

Das Durchgangslager Westerbork in Hooghalen war 1939 ursprünglich von den Holländern als zentrales Flüchtlingslager errichtet worden. Hier sollten all jene jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich aufgenommen werden, die nach dem Novemberpogrom 1938 in die Niederlande geflüchtet waren. So befanden sich im Mai 1940 bereits rund 700 Menschen im „Kamp“.

Eli de Leeuwe im Gespräch mit den Schüler/innen des Seminarfaches

Ende 1941 wurde Westerbork von den deutschen Besatzern übernommen und in ein Durchgangslager mit Werkstätten (Schneiderei, Näherei, Linoleumfabrik) und einem Krematorium (aus dem Jahre 1943) umgewandelt. Die Juden aus den Niederlanden wurden nach Westerbork transportiert, um dann später weiter in die Vernichtungslager im Osten des Reiches deportiert zu werden. Bis zu ihrer Abreise mussten die Häftlinge wie beispielsweise auch die Mutter von Eli de Leeuwe, in der „Lagerindustrie“ arbeiten. Die Gefangenen wurden u. a. zur Metallsortierung und Batteriezerlegung herangezogen. Im Jahre 1943 errichteten die Nationalsozialisten auch ein Krematorium, in dem die Leichen der älteren und kranken jüdischen Opfer des Terrorregimes verbrannt wurden – ebenso wie all jene Widerstandskämpfer, die in unmittelbarer Nähe zum Lager hingerichtet worden waren.

Ab Juli 1942 trafen Juden aus allen Teilen der Niederlanden ein, wo die Anzahl der Inhaftierten am 3. Oktober 1942 schon bei 15.235 Personen lag. Insgesamt zählte Westerbork zwischen 1942 und 1944 über 107.000 Deportierte, wovon nur etwa 5000 Menschen überlebten. Neben den meist jüdischen Lagerinsassen wurden auch Sinti und Roma sowie politische Häftlinge festgehalten.

Jeden Dienstag fuhr ein überfüllter Güterzug aus Westerbork über Assen, Groningen und Nieuweschans nach Osten, überwiegend nach Auschwitz (57.800; 65 Züge), Sobibor (34.313; 19 Züge), Bergen-Belsen (3.724; 8 Züge) und Theresienstadt (4.466; 6 Züge). In den Transportlisten finden wir die uns bekannten Namen wie die der Familie de Leeuwe, Liesel Aussen oder Anne Frank, die das gleiche Schicksal vieler Todesopfer der NS- Schreckensherrschaft und Verfolgung teilen. So wurde Westerbork zum Symbol der Deportation.

Allerdings versuchten die deutschen Besatzer nach Außen eine heile Welt vorzuspielen und auch die Lagerinsassen durch die Errichtung einer Schule, eines Hospitals sowie eines Waisenhauses zu täuschen. Dieses trügerische Bild wurde durch die regelmäßig abfahrenden Züge unterbrochen.

Der letzte Zug fuhr im September 1944 ab. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich allerdings noch 900 Gefangene im Lager, die am 12. April 1945 von kanadischen Soldaten befreit wurden. Danach war das Lager unter niederländischer Verwaltung und die Häftlinge mussten noch wochenlang darauf warten, dass ihnen die Freiheit gewährt wurde.

Heute dient das ehemalige Durchgangslager als Gedenkstätte, in dem die Geschichte von Westerbork dargestellt wird.

Nachweise

Das Konzentrationslager Sobibor

Im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragte Heinrich Himmler im Herbst 1941 den SS-und Polizeiführer des Distrikts Lublin im „Generalgouvernement“, Odilo Globocnik, mit der Ermordung der in Polen lebenden und der dorthin deportierten Juden. Nach dem Vorbild des bereits fertiggestellten Vernichtungslagers Belzec begann die SS unter dem Decknamen „Aktion Reinhardt“ mit dem Bau eines zweiten Todeslagers in der Nähe des dünn besiedelten Ortes Sobibor. Der SS-Obersturmführer Franz Stangl (1908-1971) wurde Oberkommandant; des Weiteren setzte die SS Ukrainer und Volksdeutsche als Wach- und Sicherheitspersonal im Lager ein.

Das Lager Sobibor war 400 x 600 m groß und war von einem 3 Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Es war in 4 Lagerbereiche unterteilt, die jeweils separat eingezäunt wurden: das Vorlager (der SS-Bereich), die Wohn- und Arbeitsbaracken (Lager 1), das Empfangsgelände (Lager 2) und der Vernichtungsbereich mit den Gaskammern (Lager 3).

Im Vorlager kamen die Güterwagen an. Dort waren ebenfalls Unterkünfte für SS-Männer. Bei Ankunft der Güterwagen spielte das Lagerorchester. Später brachte man die Juden in Lager2, wo sie getrennt und entkleidet wurden. Danach wurden sie durch einen 2-4 Meter breiten und 150m langen „Schlauch“ vom Lager 2 ins Lager 3 gescheucht. Dass sie in den sicheren Tod getrieben wurden, wussten die Juden nicht.

In Sobibor verloren zwischen 150.000 und 250.000 Juden ihr Leben.

Heute befindet sich auf dem ehemaligen Lagergelände eine Gedenkstätte. Dort können sich Besucher in einem kleinen Museum über die grausigen Geschehnisse anhand von Einzelschicksalen informieren.

Thomas Blatt, geboren am 15. April 1927 in Izbica, Ostpolen, berichtet in einem Spiegelinterview von seinen traumatischen Erlebnissen in Sobibor. Im Alter von 15 Jahren wurde er 1943 zusammen mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder in das Vernichtungslager deportiert. Seine gesamte Familie wurde dort ermordet. Blatt konnte nur mit Glück und geschickten Überlebensstrategien der Hölle entfliehen.

Zunächst gab er sich als Handwerker aus, denn diese Arbeitskräfte waren gesucht. Neben den geforderten Handwerksarbeiten, musste er die Habseligkeiten der Ermordeten verbrennen. In ihren Bündeln fand er zuweilen kleine Geldmünzen, mit denen er sich beim Wachpersonal vor der Gaskammer „freikaufte“. Ihm war bewusst, dass in Sobibor nur der Tod auf ihn wartete, zumal er einige Male Frauen die Haare abschneiden musste, bevor sie in die Gaskammern getrieben wurden.

In Sobibor gab es keine Selektion berichtet Herr Blatt; Sobibor war eine reine Vernichtungsmaschinerie. Den meisten Juden, insbesondere die, die aus Holland kamen, war dies bei ihrer Ankunft aber nicht bewusst. Sie dachten, sie bekämen dort Arbeit. Sie ließen sich von den SS-Männern täuschen und applaudierten ihnen nach ihrer Ansprache. Sie konnten sich nicht vorstellen, was sie tatsächlich erwartete und glaubten fälschlicherweise sie könnten sich nach der Dusche von der langen beschwerlichen Reise ausruhen …

Trotz der verzweifelten Situation versuchte Blatt stets einen starken, sauberen und gesunden Eindruck zu hinterlassen, da die Deutschen dies schätzten und ihn am Leben ließen. Die meiste Angst hatten Blatt und die übrigen Häftlinge aber vor den ukrainischen Wachmannschaften. Gut 100 von ihnen arbeiteten in Sobibor. Die SS hatte sie aus dem Heer der gefangenen Rotarmisten rekrutiert, von denen etliche in den Lagern der Wehrmacht ums Leben gekommen waren. Auf die Frage des Spiegels, ob diese Wachleute wie Demjanjuk, überhaupt eine Wahl hatten, wenn sie sich selbst retten wollten, antwortet Blatt mit einem entschiedenen „ja“. Sie hätten desertieren können, so Blatt. Es wären nur ca. 30 deutsche SS Männer vor Ort gewesen. Einige wären tatsächlich geflüchtet. Die Mehrheit aber, die blieb, hätte sadistisch die jüdischen Gefangenen misshandelt, erschossen oder in die Gaskammer getrieben. Einer von ihnen sei Demanjuk gewesen, der für den grausamen Tod von ca. 29.000 Menschen die Mitverantwortung trage und gegen den Blatt in der bevorstehenden Gerichtsverhandlung aussagen werde. Ihm sei nicht das eigentliche Gerichtsurteil so wichtig; wichtig sei, dass die schreckliche Wahrheit von Sobibor einer breiten Öffentlichkeit bekannt werde.

Nachweise

Die Deportation der niederländischen Juden

Es ist heute bekannt, dass 75 Prozent (!) der niederländischen Juden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet worden sind. Zu dieser erschreckend hohen Zahl kommen noch jene Flüchtlinge aus Deutschland, die zusammen mit den Niederländern über das Durchgangslager Westerbork wöchentlich nach Osteuropa deportiert wurden. Die meisten von ihnen fanden in Auschwitz den Tod. So hat das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation mittels der erhaltenen Transportlisten festgestellt, dass von der Gesamtzahl von 102.893 aus Holland deportierten Juden im Zeitraum vom 15. Juli 1942 bis September 1944 60.085 nach Auschwitz deportiert wurden.

Die Niederlande hatte die höchste Deportationsquote in Westeuropa. Mehr als 100.000 der insgesamt 140.000 holländischen Juden wurden von der deutschen Besatzungsmacht deportiert; aus den Lagern in Osteuropa zurückgekehrt sind lediglich 6.000 Verschleppte. Von den 140.000 niederländischen Juden starben beinahe drei Viertel in den Konzentrationslagern in Deutschland und Osteuropa, womit die Niederlande die mit Abstand höchste Deportationsquote in ganz Westeuropa aufweist. Im Vergleich dazu lag die Quote der Verschleppten aus Belgien und Norwegen bei 40%, in Frankreich bei 25%, in Italien bei 20% und in Dänemark bei 2%.

Diese prozentual erschreckend hohe Zahl der deportierten Juden in den Niederlanden erzeugt bis heute heftige Diskussionen sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der breiten Öffentlichkeit. Für die meisten war und ist es „unvorstellbar“, wie die Niederlande, ein für liberale und tolerante Traditionen bekanntes Land, eine derart hohe Deportationsquote erreichen konnten.

Auch gingen die vom NS-Regime eingesetzten Militärverwaltungen in Belgien und Frankreich bei der Umsetzung von antijüdischen Maßnahmen nicht derart effizient und motiviert vor wie die in den Niederlanden herrschende deutsche Zivilverwaltung. In den belgischen und französischen Besatzungs- oder Kollaborationsregimes fehlte auch der vergleichsweise starke Einfluss von SS und NSDAP. Insgesamt hatte die Judenverfolgung in Belgien und Frankreich bei den Verfolgern systembedingt keine derart hohe Priorität wie diejenige in den Niederlanden. Zudem waren die Transportwege von den Niederlanden in die Vernichtungslager nie unterbrochen, wie dies in Belgien und Frankreich monatelang der Fall war. Ferner erreichten die belgischen und französischen Bürokratien keinen derart hohen Organisationsgrad wie die niederländische Verwaltung. Sie waren somit für das Umsetzen der antijüdischen Maßnahmen aus Sicht der Täter weniger „hilfreich“. Ebenso hilfreich war die NSB, die enttäuscht über die zögerliche Judenpolitik der Besatzer war und einfach eigene Kampagnen gegen die Juden in den großen Städten führte.

Die Historikerin Nanda van der Zee versucht in ihrem Werk „Um Schlimmeres zu verhindern … Die Ermordung der niederländischen Juden: Kollaboration und Widerstand“ aus dem Jahre 1999 den Ursachen auf den Grund zu gehen. Die Faktoren, die benannt werden, sind vielfältig und reichen vom vermeintlichen Fehlverhalten des Königshauses bis hin zur restriktiven Flüchtlingspolitik in den dreißiger Jahren, in denen – so van der Zee – wesentliche Weichen hinsichtlich der späteren Judenvernichtung gestellt worden seien. So habe sich Königin Wilhelmina bereits frühzeitig ins sichere England abgesetzt. Mit der Flucht von Krone und Kabinett sei die Regierungsgewalt zurückgelassen und die staatsrechtliche Grundlage für die deutsche Zivilverwaltung in den Niederlanden geschaffen worden. Wilhelmina habe auf diese Weise ihre jüdischen Untertanen preisgegeben. In dieser Situation hätte auch Radio Oranje versagt. Das Sprachrohr der Monarchie aus London habe es versäumt, sich ausreichend für jüdische Belange stark zu machen.

Als der österreichische Jurist Seyß-Inquart als Reichskommissar dem deutschen Verwaltungsapparat vorangestellt worden sei, habe eine neue, noch brutalere Phase der Judenverfolgung eingesetzt. Niederländische Beamte hätten hiernach keinen Widerstand geleistet, den diskriminierenden Erlassen Geltung zu verschaffen. Vergeblich hofften Einzelne, die mutige Hilfsaktionen wagten, auf offizielle Unterstützung. Viele Juden wurden versteckt, obwohl darauf härteste Strafen standen. Dennoch blieb dies die Ausnahme. Verrat und Kollaboration überwogen.

Nachweise

Texte und Fotos: Seminarfach „Eine Blume namens Heimat“ 2009-2010 (LAX)

2010-06-21, jb