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Rede zur Verabschiedung des
Abiturjahrganges 2005

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Eltern und Angehörige,
liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir treffen uns heute und hier, um den Aufbruch der 104 diesjährigen Absolventinnen und Absolventen unserer Schule in ihr erwachsenes Leben zu feiern. So ein Aufbruch bedeutet für die Jungen, sich zu lösen und nun einen eigenen Weg finden zu müssen und für die Älteren, ihre Zöglinge loszulassen und sie die Konsequenzen ihres Handelns fortan alleine tragen zu lassen. Beides ist nicht einfach.
Und: Es gibt auch in der deutschen Literatur Beispiele für diese Ablösung und die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten.
Du Taugenichts! Da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.

Solche oder ähnliche Aussagen sind für Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ja nichts Unbekanntes. Nicht selten haben Sie hier und anderswo Aussagen gehört, die Sie, Ihr Verhalten als Jugendliche oder Ihre Entscheidungen, Hoffnungen und Wünsche entwerten. Sätze wie … nur, wenn Sie dies und das studieren, werden Sie nicht bei Hartz IV landen …; Studieren ist sinnlos oder das Abitur ist heute auch nichts mehr wert … sind Ihnen allzu vertraut.
Eine meiner Schülerinnen sagt dazu: Ich denke dann immer so, ,erzähl du mal‘; ich will versuchen, meinen Weg zu finden und für mich die Genugtuung haben, dass ich es kann.
Sie haben gegen alle möglichen Widrigkeiten auf einen hohen Bildungsabschluss gesetzt und können heute unsere Gratulationen zu seinem Gelingen entgegen nehmen.

Im Zitat Joseph von Eichendorffs fordert der Vater seinen Sohn auf, sich nun auf die eigenen Füße zu stellen und sich nicht mehr versorgen zu lassen. Sicher ist er sich dabei nicht, ob sein Sohn einen eigenen und vor allem einen erfolgreichen Weg gehen wird. Er weiß aber, dass es nun keinen Weg mehr an der Hand des Vaters gibt.
Und: Es ist offenbar auch für den Vater Zeit, den Sohn gehen zu lassen. Der als Taugenichts bezeichnete Sohn indessen geht – und das erstaunlicherweise mit großer Heiterkeit und ohne Groll.
Mancher ist sicher angesichts des Verlustes eines warmen Nestes weniger erheitert. Allein schon der Mut, die Neugier und die Freude, ja Aktivität, mit der der junge Mann sich auf seinen Weg ins Glück macht, lassen den Schluss zu, dass es sich hier keineswegs um einen tatsächlichen Taugenichts handelt, der diesen Titel auch verdiente.

Ich will hier in fünf Schritten ein paar Gedanken zu den wesentlichen Bereichen Ihres Lebens im Öffentlichen und im Privaten, zu Jugend, Arbeit und Institution, zu Liebe und Identität heute entwickeln.

Teil 1: Historische Ereignisse

Was war eigentlich los, als Sie auf die Welt gebracht wurden?

1986, in dem Jahr, in dem die meisten von Ihnen zur Welt kamen, gab es im sowjetischen Tschernobyl einen schweren Unfall in einem Kernkraftwerk. Dabei wurden radioaktive Stoffe freigesetzt, die Teile Russlands, Weißrusslands, der Ukraine und des übrigen Europa unterschiedlich stark belasteten.

Sicherlich haben Sie sich, liebe Eltern, Sorgen gemacht, wie Sie Ihre Kinder vor möglichen Strahlenbelastungen draußen oder in Nahrungsmitteln schützen könnten. Und auch die öffentliche Debatte war von Ängsten geprägt.
In der Debatte einten sich zwei wichtige Entwicklungen, die in Deutschland die damaligen Wahrnehmungen mit prägten:
Zum einen traf das Ereignis den Nerv der Ökologiebewegung der 80er Jahre. Ihr Anliegen war der verantwortungsvollere Umgang mit den natürlichen Ressourcen – für die nachfolgenden Generationen, also auch für Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten.
Zum anderen traf das Ereignis auch den Nerv des zu dieser Zeit noch die Mentalitäten bestimmenden Kalten Krieges zwischen Ost und West, ja, es bildete dessen Höhepunkt.
Über vermeintliche Unzuverlässigkeit der Technologien sozialistischer Systeme wurde lamentiert, viele hatten einfach Angst vor einem fürchterlichen Lebensende im Zusammenhang mit einer diffusen Bedrohung, deren Risiken nicht mehr kalkulierbar zu sein schienen.

Und: Tatsächlich hat sich etwas Neues spätestens durch Tschernobyl gezeigt: Nämlich dass die wirklichen Gefahren auch beim klarsten Feindbild im Grunde erst mal gar nicht sichtbar sein müssen. Das sieht man nicht zuletzt an den bis heute nicht abschätzbaren Folgen des Reaktorunfalls für menschliches Leben.
Der Kalte Krieg hat mit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 sein Ende genommen. Die Feindbilder sind heute weniger klar; abgesehen von den Unterschieden zwischen westlichem und östlichem Denken ist heute sicherlich die öffentlich am meisten thematisierte Angst die vor den Auswirkungen religiösen Fundamentalismus‘.

Das Verhältnis zur Natur aber ist gebrochener denn je.
Eine meiner Schülerinnen sagt dazu: Ich hätte gern ein Verhältnis zur Natur. Eine andere sagt: Ich würd sagen, ich bin ein naturbewusster Mensch, aber mein Verhältnis zur Natur ist gebrochen. Eine dritte sagt: Du musst doch mal ein Wochenende ohne Fernseher und fließend Wasser verbringen; danach sieht man den Luxus ganz anders.
Was sich zeigt, ist – wie zu Zeiten des Taugenichts – eine nach wie vor tiefe Sehnsucht nach einem Leben mit und in der Natur. Wir sind aber weit entfernt von der romantischen Vorstellung, dass die Natur nicht nur aus erforschbaren Gesetzmäßigkeiten besteht, sondern in ihr auch geheimnisvolle Kräfte wirken, die unsere Geschicke beeinflussen.
Im Gegenteil gerät sie im Falle solcher Katastrophen wie etwa der des Tsunami an Weihnachten 2004 zu etwas, das sich menschlicher Kontrolle entzieht und vielleicht auch durch unverantwortliches menschliches Handeln erst möglich wurde.

Der Taugenichts macht sich in Eichendorffs Novelle noch ohne Sorgen um den Zustand der Natur auf seinen Weg. Das ist Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, heute nicht mehr gegeben. Es ist zu hoffen, dass Sie trotzdem auf Ihrer Wanderschaft ein ähnlich gutes Verhältnis zu sich selbst gewinnen und zudem Ihre Sehnsucht nach der Natur und ihrer Bewahrung nicht verlieren.

Teil 2: Der Blick auf die bildende Institution

Zur Zeit Joseph von Eichendorffs sehnten sich die großen Geister nach Zusammenkünften, in denen das Öffentliche und das Private sich nicht mehr ausschließen sollten. Die Romantiker waren angesteckt von den Idealen, die Aufklärung und Französische Revolution verbreitet hatten, und sie lebten inmitten von Zusammenbrüchen kollektiver Werte und politischer Perspektiven und Veränderung.
In solchen Zeiten – und vielleicht haben wir heute auch einen Hauch davon – werden Normalitäten hinterfragt. Die sogenannten Salons der Romantiker sollten Orte sein, an denen Bildung, Kultur, Politik und Leben eine Einheit eingehen sollten. An diesen Orten wollte man zusammen denken, von dort aus die Welt verändern und noch mehr scheinbare Grenzen überwinden: Neben gelebter Kultur ging es um Religionen untereinander, Religion und Alltag, Kultur und Politik und vieles mehr.
Von all diesen Ansinnen, Grenzen zu überwinden und scheinbar Unvereinbares zu vereinen, sind wir heute faktisch weit entfernt. Dennoch ist die Sehnsucht nach einem als einheitlicher wahrgenommenen Leben ungleich größer.

Die Institution Schule ist ein öffentlicher Ort mit Regeln, die von den an ihr Beteiligten einzuhalten sind.
Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sind nach vielen Jahren inzwischen Profis darin, die Mächtigen zu beobachten, einzuschätzen und erfolgreich für sich selbst und Ihre Gruppe mit ihnen umzugehen.
Eine sagt dazu: Ich denke, dass jeder Kurs verschieden ist und dass man solche geheimen Regeln immer wieder rauskriegen muss. Und weiter: Man weiß irgendwann, wo man zu spät kommen kann und wo nicht. Und im extremeren Fall formuliert eine andere es so: Wenn ich mit einem Überlegenen rede, dann tue ich das anders als mit einem Unterlegenen. Manchmal schimpft man über die, die Macht haben.
Obwohl gelegentlich im Zusammenhang mit der Schule von einer Lernfabrik die Rede ist, ist die Schule kein Unternehmen. Das Unterrichtsangebot – den Richtlinien des Kultusministeriums folgend – ist kein Warenangebot und unsere SchülerInnen sind weder Kunden, die sich Bildung einkaufen, noch Lohnabhängige. Die Produktion in einem Lehrbetrieb unterscheidet sich von industrieller Fertigung am markantesten dadurch, dass sie mit unbekannten Sachverhalten und dem Denken sich entwickelnder, meist noch nicht voll rechtsfähiger Menschen zu tun hat. Es ist ihr also unmöglich, einer bloß zweckrationalen und ökonomischen Logik zu folgen, da alles Lernen immer auch Umwegproduktionen bedeutet.
Das wiederum ist ein zutiefst romantischer Gedanke.

So kennt der Taugenichts seinen Weg zunächst auch nicht.
Aber das war nun schlimm! Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, dass ich eigentlich den rechten Weg nicht wusste. Auch war ringsumher kein Mensch zu sehen in der stillen Morgenstunde, den ich hätte fragen können, und nicht weit von mir teilte sich die Landstraße in viele neue Landstraßen, die gingen weit, weit über die höchsten Berge fort, als führten sie aus der Welt hinaus, sodass mir ordentlich schwindelte, wenn ich recht hinsah.
Er setzt sich über Zwänge hinweg, reist ohne Geld und ohne genauen Plan. Mit Hilfe seines Fragens und der Bereitschaft zur Wanderschaft, zum Suchen findet er zur Umwegproduktion seinen, wenn auch verschlungenen und sicher kurvenreichen Weg.

Was man also lernen kann, – in der Schule, aber auch am Taugenichts, – ist, wie man weitgehend ohne ökonomische Zwänge denken und sich in einem Gemeinwesen verorten kann.
Was man da noch nicht gelernt hat, ist folglich das ökonomisch orientierte Denken, sieht man einmal von Arbeitsökonomie ab. Und: Wann welchem Denken der Vorzug zu gewähren ist. Sie werden also nicht umhin kommen, sich in Ihrer Zukunft auch mit der gerade wieder durch Franz Müntefering in der öffentlichen Diskussion brisant gewordenen Frage nach Staat oder Markt zu verhalten.

Sicher ist auch, dass heute viele Fragen durch die Bildungsinstitution nicht beantwortet werden können. Wir sind weit entfernt von der romantischen Vorstellung, man könne nicht nur von Gebildeten und Gelehrten eine Menge lernen, sondern auch vom einfachen Volk. Damit unterscheidet sich Ihre Situation von den ganzheitlicheren Bildungsvorstellungen, die man in der Romantik anstrebte.

Teil 3: Ist Jung sein cool?!

Jung sein bedeutet für mich einerseits Freiheit, andererseits Abhängigkeit., sagt eine meiner Schülerinnen. Weiter führt sie aus: Wie in einer Art Zwischenposition hat man aber auch ständig das Gefühl, nur nach einem späteren Leben zu streben.
Man ist finanziell, aber auch persönlich noch abhängig von den Eltern; auf der anderen Seite fängt man auch schon an, eigenes Geld zu verdienen. Und man hat auch genügend Erfahrungen gesammelt, dass man sich in manchen Situationen besser bewährt als die eigenen Eltern. Auch lernt man in der Jugend, kritisch mit Autoritäten umzugehen.
Weiter sagt sie: Ich glaube, der Grund dafür, dass viele sagen, dass die Jugend die schönste Zeit des Lebens ist, liegt daran, dass man nie wieder einfach so Entscheidungen treffen kann.
Eine andere Schülerin berichtete mir kürzlich von ihrer Arbeit. Sie hatte dort die Erfahrung gemacht, dass eine ältere Mitarbeiterin ihre Position ihr gegenüber höher eingeschätzt habe. Sie sagte dazu: … Man sollte der Frau niemals alles erzählen und manchmal muss man lächeln, aber vorsichtig sein. Meine Schülerin war also hervorragend in der Lage, die Macken und Schwächen dieser Mitarbeiterin und deren Befugnisse einzuschätzen und damit so umzugehen, dass sie selbst dabei nicht zu Schaden kam.
Daran kann man sehen, dass es manchmal nicht die Erfahreneren sind, die einen klareren Blick auf die Menschen haben.
Im Gegenteil: die Jungen, die noch weniger fest die Welt interpretieren und weniger entsprechend einem bereits gefestigten Weltbild wahrnehmen, sehen manchmal die Verfangenheit der anderen umso schonungsloser.

Ihre Situation als im Aufbruch befindliche junge Erwachsene ist also eine hoffnungsvolle Angelegenheit, liebe Abiturientinnen und Abiturienten.

Kein Wunder, dass man als junge Generation immer wieder verschrien wird. Kein Wunder also, dass die jeweiligen Älteren diese manchmal schonungslosen Wahrheiten fürchten. Kein Wunder, dass sich solche Generationenkonflikte stets reproduzieren.

Sie – und das unterscheidet und erschwert Ihre Situation als heute 19/20-jährige von früheren – müssen an der Geschichte Ihres Landes, Europas, der Welt teilnehmen. Sie müssen dies in einer Gesellschaft tun, die in vielerlei Hinsicht durch Unübersichtlichkeit und Überdefiniertheiten geprägt ist.
Dabei erwarten Sie andere Probleme als die Eltern- und Lehrergeneration und insofern erscheint es mir erfreulich, dass die erste zitierte Schülerin feststellen konnte, dass sie mancher Situation bereits besser gewachsen ist als die Erwachsenen.
Es ist zu hoffen, dass Sie in der Lage sein werden, in einer zusehends von ökonomischen Orientierungen und immer mehr Konkurrenz durchwobenen Gesellschaft bei sich selbst als Menschen und in gutem Kontakt mit anderen Menschen bleiben können. Es ist zu hoffen, dass Sie nicht vereinzelt zu der Überzeugung gelangen, dass man ja ohnehin nichts erreichen kann.

Und: Es gibt auch noch andere schöne Lebensalter als die Jugend. Ich zitiere in diesem Zusammenhang mit Karlsson vom Dach einen möglicherweise alten Bekannten. Dieser antwortet auf die Frage, welches denn die besten Jahre eines Mannes seien: Alle … Jedenfalls was mich betrifft. Ich bin ein schöner und grundgescheiter und gerade richtig dicker Mann in meinen besten Jahren.

Teil 4: Identität in der Moderne

Die modernen Gesellschaften haben ein Problem:
Nämlich die Frage, wie man denn heute eigentlich noch etwas Eigenes, etwas Besonderes sein und bleiben kann.
Wieder ist eine Sehnsucht zu bemerken, danach, dass es so etwas wie eine geschlossene oder ganzheitliche Identität heute noch geben kann.
Pablo Picasso und andere Kubisten haben mit ihren zerlegten Menschendarstellungen zum Ausdruck gebracht, dass sie an ein geschlossenes Bild eines Menschen nicht mehr glauben. Und im dadaistischen Manifest aus der Zeit der Weimarer Republik steht: Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. Die Gleichzeitigkeit so vieler verschiedener Entwicklungen, eine solche Bruchstückhaftigkeit hat es vorher nicht gegeben. Die Dadaisten sind es auch, die in der Folge der veränderten Identität eine andere Kunst verlangen, die sich auf das Wesentliche, das erlebte „Durcheinanderjagen aller Dinge" besinnen und entsprechend unerhörte neue Möglichkeiten und Ausdrucksformen dafür einfordern. Die Bewegung negiert entsprechend das bürgerliche Denken und versteht sich international, also grenzüberschreitend. Sie entwickelt das Prinzip der Collage in der Kunst, also eine Entsprechung zum nunmehr als zusammengewürfelt erlebten Lebensentwurf.
Dies entspricht wohl mehr als jedes andere künstlerische Prinzip der Identität in der Moderne. Denn Identität und Lebensentwurf sind ja letztlich auch wie zusammengesuchte oder zufällig zusammengekommene Materialien, die in einer neuen Weise in eine Verbindung kommen. Dabei entstehen Überraschungseffekte, absurde Kombinationen und andere, auch sinnvolle Ergebnisse des freien Spiels des Zufalls.
Entsprechend schwer ist es nun für Sie, zum einen eine Verwirklichungsmöglichkeit im öffentlichen Leben zu finden, bei der die jeweiligen zusammengewürfelten Aspekte Ihrer Persönlichkeit zum Einsatz kommen können.

Teil 5: Das private Glück

Klar, sagt eine meiner Schülerinnen, es ist mir nicht wichtig, wie viel Geld mein Partner hat. Eine andere sagt zu Beziehungen: Viele machen sich das viel zu kompliziert. Man kann ja ruhig ausprobieren. Wenns nicht klappt, ist das Pech. Und: es gibt auch solche, denen das Geld wichtig ist. Und einen Schüler nervt es, wenn eine lieber den mit dem Porsche nimmt, der den ganzen Tag im Büro sitzt und dass es so Kategorien gibt, nach denen Jungs beurteilt werden.

Ein Blick auf den vermeintlichen Taugenichts lohnt auch hier. Gleich zu Beginn seiner Wanderschaft verliebt er sich in eine vermeintlich adelige und damit unerreichbare Schönheit. Er handelt nicht gemäß ökonomischen Zwängen, indem er statt Kartoffeln in seinem Garten Blumen für die Geliebte pflanzt.
Doch dann werden seine Erwartungen und Wünsche zunächst offenbar zurückgewiesen.
Zusammen mit der Überzeugung, dass wegen des Standesunterschiedes eine Liebesbeziehung unmöglich scheint, macht sich der Taugenichts wieder auf seinen Weg. Doch seinen Gefühlen bleibt er treu, denn im Laufe der nun folgenden langen Reise nach Italien und zurück lehnt er zwei andere Heiratsangebote ab.
Und: Er wird belohnt. Es erweist sich, dass sie keine Adelige ist. Da nun weder Standesschranken noch andere Bewerber zwischen den beiden stehen, können sie sich verbinden und erhalten obendrein noch ein Schloss. Happy End.

Der Taugenichts geht Umwege und weiß die Verhältnisse lange nicht einzuschätzen. Er handelt spontan nach der Stimme seines Herzens und fragt nicht danach, was „etwas bringt". Er lehnt die mögliche reiche Heirat ab und er liebt bedingungslos.
Sein Handeln ist im Großen und Ganzen frei von Konsuminteressen, aber auch vom bürgerlich erwarteten Lebenswandel.

Der Taugenichts liebt, und das vermeintlich über Standesgrenzen hinweg. Erst die bessere Sicht aus der Ferne ermöglichen aber seine Rückkehr und das Leben zu zweit.

Der Taugenichts ist also von dem, was mir meine Schülerinnen und Schüler freundlicherweise über ihre eigenen Werte erzählt haben, gar nicht so weit weg. Und auch das finde ich erfreulich. Denn es heißt ja, bei sich zu sein und der eigenen inneren Stimme zu folgen, genau hinzusehen und eben möglicherweise auch gesellschaftlich etablierte Grenzen zu überschreiten.

Resümee

Der Taugenichts, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ist genauso wenig ein Nichtsnutz oder Tunichtgut wie Sie. Er ist zu keiner Zeit faul oder fiele jemand anderem zur Last, und er akzeptiert, dass es an der Zeit ist, in die Welt zu gehen und seinen eigenen Weg in sein eigenständiges Leben zu finden.
Eher schon ist er ein Glückspilz, der immer wieder eine Arbeit findet, verehrt wird, Zuwendungen bekommt, am Ende seine große Liebe und gar noch ein Schloss für sich gewinnt.
Seine Lebenslust gründet sich in der Überzeugung, dass diese Welt eine Ordnung hat. In der Novelle führen die Ereignisse tatsächlich zu einem glücklichen Ende. Soviel Glück wünsche ich Ihnen, auch wenn die Ordnung der Welt heute bei Weitem nicht mehr so sicher ist.
Der Taugenichts ist nicht sesshaft und bequem, und zwar weder im konkreten Sinne noch im übertragenen Sinne. Das heißt, dass er auch in seinem Denken beweglich bleibt. Sein Fernweh und seine Wanderlust sind Ihnen vor allem in Ihrem Denken zu wünschen.
Denn erst durch sein Weggehen und seine Beweglichkeit kann der Taugenichts mit einem neu gewonnenen Blick zurückkehren.
Wenn also wieder eine meiner Schülerinnen sagt: Meine Heimat ist da, wo meine Möbel sind. Und hier in Ostfriesland auf keinen Fall, so ist das in diesem Sinne ja gar nicht schlecht, zeugt es doch vom Aufbruch und vom Zweifel.

Begrenzt, wie Menschen nun mal sind, können sie Vorzüge und Nachteile eines Systems oft erst erkennen, wenn sie zu ihnen auch der Distanzierung fähig sind. Ein verantwortungsvoller Bürger braucht, um Verantwortung für das System zu übernehmen, zu dem er gehört, auch die Chance, es einmal aus der Distanz zu sehen.
Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wünsche ich, dass Sie jeweils in der Lage sind, zu den Verhältnissen, in die Sie sich willentlich begeben, aus ganzem Herzen „Ja" sagen zu können, weil Sie sie vorher von allen Seiten angesehen haben und die Folgen Ihrer Entscheidung für sich und andere abschätzen können.
Vor allem aber wünsche ich Ihnen die Heiterkeit, den Mut, die Aktivität und die Freude des Taugenichts, wenn Sie Ihre eigene Wanderschaft ins Glück aufnehmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Kerstin Harjes

2005-07-04, sh