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Rede zur Verabschiedung
der AbiturientInnen 2011 am 25.06.2011

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Liebe Angehörige!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem heutigen Tag endet ein wichtiger Lebensabschnitt für Sie, liebe AbiturientInnen und für Sie, liebe Angehörige. Die beiden zurückliegenden Jahre heben sich sicherlich von den vorangegangenen ab, vielleicht wie eine Art Reise.

Ich lade Sie ein, mit mir ein Experiment vorzunehmen.
Ich lade Sie ein, sich mit mir vorzustellen, das, was unsere SchülerInnen und mit ihnen Sie, liebe Familien und auch wir vom TGG in den letzten zwei Jahren erlebt haben, als eine Art Reise zu betrachten.

Zunächst Grundsätzliches zur Reise:
Wer früher reisen wollte, musste Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, musste wissen, dass er oder sie sich bewegen musste und sich offensiv zur Horizonterweiterung entscheiden musste. Denn es gab weder Pauschalreisen noch industriell organisierten Massentourismus.
Wenn jemand von einer Reise berichtete, dann war das meist auch ein Bericht von einer persönlichen Veränderung, die durch das Erlebnis der Reise eingetreten war.
Ein Beispiel mag der Dichter Goethe geben, der nach seiner zweijährigen Reise nach Italien – viel länger als geplant –, verändert im Denken an den Weimarer Hof zurückkehrte.
Früher waren das noch individuell geplante Reisen und vergleichsweise außerordentlich langsam, dagegen war das, was wir hier in den letzten zwei Jahren erlebt haben, eher eine Reise mit dem Transrapid:
Wie Sie, liebe AbiturientInnen als Doppeljahrgang, ist auch der Transrapid ein Prototyp, dessen serielle Produktion ungewiss und vielleicht eher nicht empfehlenswert ist.

Der so genannte Doppeljahrgang:

VOR einer Reise braucht es zunächst eine Entscheidung.

Zu Beginn der Qualifikationsphase Ihres Abiturjahrganges stand für Sie, liebe AbiturientInnen, die Wahl des Reiseprogrammes an.

Dabei sind Sie nach Ihren durchaus unterschiedlichen Temperamenten verfahren.
>Die einen haben bereits zu Beginn alle Eventualitäten durchdacht.
>Andere haben es erst einmal auf sich zukommen lassen und konnten sich auch schon nach Ausfüllen des Wahlzettels kaum mehr erinnern, was sie da angekreuzt hatten.

Sicherlich hatten Sie keine Möglichkeit, eine Pauschal- oder All-inclusive-Reise zu buchen.

Wenn Sie eine Reise buchen, dann verfahren Sie, meine Damen und Herren, bei der Auswahl des Ortes und der Art der Reise vermutlich nach Ihren Wünschen und Bedürfnissen, aber auch nach Ihren besonderen Fähigkeiten.

Als unsere heutigen AbiturientInnen 2009 die Wahlen für ihre Reise durch die Qualifikationsphase getroffen haben, da hatten Sie die Wahl zwischen verschiedenen Profilen und konnten auch in manchen Bereichen ihre Fächer bestimmen.
Nicht alles konnten sie mitbestimmen und es gab auch nicht für alle die Garantie, dass sie am Ende der Reise das angestrebte Ziel erreicht haben würden.
Bei Ihren Entscheidungen ging es also durchaus um etwas!

Und sie waren sehr verschieden:

In einer Übertragung auf die Tierwelt wird das manchmal fast Absurde des gemeinsamen Unterrichtens ganz verschiedenartiger Wesen deutlich:
(zitiere:)

In (der) „Schule der Tiere“ bestand der Unterricht aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen, und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet.

Die Ente war gut im Schwimmen, besser sogar als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, musste sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch durchschnittlich war. Durchschnittliche Noten waren aber akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer: die Ente.

Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachgiebig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen darin schlug, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden.

(…)
Am Ende des Jahres hielt ein anormaler Aal, der gut schwimmen und etwas rennen, klettern und fliegen konnte, als Schulbester die Schlussansprache.

(Entnommen dem Buch: „Legasthenie muss kein Schicksal sein“
von E.-M. Soremba; Lehrerin ; Herder Verlag 1995)

Anders gesagt: Sie schmeißen auch nicht Ihren besten Freund aus dem Flugzeug und sagen dabei – quasi als gut gemeinter Gefallen – zu ihm, es sei jetzt mal an der Zeit, das Fliegen zu lernen!

Das Fliegen haben Sie bei uns nicht gelernt – und unterwegs aus dem Flieger geworfen wurden Sie sicherlich bei uns auch nicht. Aber einfach, das glauben alle hier, war diese Reise nicht.

Für unsere XXL-Reisegruppe gab es keine Last-Minute-Reise und kein Super-Sonder-Spezial-Angebot und auch keinen Sondertarif.

Daher hatten wir es auch nicht selten mit Stornierungen zu tun, wenn wir uns manches Mal von SchülerInnen verabschieden mussten, die z. B. die Reise verlängerten – quasi also die Reiserücktrittsversicherung in Anspruch nehmen mussten.

Das Reisebudget und der Support: In manchen Fällen waren das 11, 12, in anderen 13 oder in einzelnen Fällen sogar 14 Jahre, für die Ihre Kinder Ihnen, liebe Eltern, sicherlich sehr dankbar sind.
Wie sehr die Familien hinter unseren SchülerInnen stehen, das habe ich in zahlreichen Beratungsgesprächen in den letzten zwei Jahren immer wieder bemerkt.

Sie hören schon heraus, dass nicht alle von denen, die mit uns diese Reise angetreten haben, heute bei uns sind.
>Nicht selten habe ich von unseren SchülerInnen gehört, „Das war anstrengend“ oder empört „das war ungerecht für die, die ein Jahr weniger hatten und dann auch noch mehr Stunden“.
Das haben mir SchülerInnen erzählt, die durchaus bemerkt haben, dass der jüngere Jahrgang im Doppeljahrgang letztlich nicht die selben Voraussetzungen hatte.

>Zum Beispiel waren in meinem eigenen Kunst-Kurs auf erhöhtem Niveau am Anfang 22 SchülerInnen im Alter von 15 bis 22 Jahren. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass die Sicht auf die Welt gerade in dieser Altersspanne erheblich unterschiedlich war.

Für die einen – die Älteren – bedeutete das vielleicht auch Ängste: Was wird sein, wenn doppelt so viele BewerberInnen um Lehrstellen und Studienplätze antreten?
Die anderen – die Jüngeren – traten schon vorbelastet an: Sie waren es auch, die als letzter fünfter Jahrgang der Orientierungsstufe, gerade dort angekommen, diese schon wieder verlassen mussten, um der erste sechste Jahrgang am ziemlich großen Gymnasium zu werden. Da waren sie die Neuen, die Kleinen, zu denen es ganz am Anfang noch nicht einmal das richtige Mobiliar gab.

Andere haben mir berichtet, dass nach der anfänglichen Unterscheidung für sie gar nicht mehr feststellbar gewesen sei, wer eigentlich zu welchem Jahrgang gehöre. Das ist ein Zeichen dafür, dass bei allen Unterschiedlichkeiten doch eine Gemeinsamkeit entstanden ist. Noch in dieser Woche haben mir AbiturientInnen mit Begeisterung davon erzählt, wie sie liebevoll eine Mottowoche organisiert haben, in der sie für die anderen SchülerInnen als Einheit sichtbar wurden, nicht zuletzt durch Motti wie „suit up“ und „Kinderhelden“, „Piraten“ oder – mit Stofftier unter dem Arm – „Schlafanzug“.
Am Ende dieser denkwürdigen Veranstaltung hat diese geeinte Reisegruppe unser LehrerInnenzimmer „besetzt“ und dort ein Ständchen gesungen, von dem ich feststellen konnte, dass es noch auf youtube zu bewundern ist.

Das TGG und das Niedersächsische Kultusministerium waren vielleicht so etwas wie die Reiseanbieter. Die ReiseleiterInnen, Ihre LehrerInnen, konnten als erfahrene Fachkräfte dafür sorgen, dass die Reise keine Entspannungsreise wurde –, denn entspannen können Sie sich ja schließlich auch ohne uns.

Im Unterricht ging es immer wieder um das Einüben verschiedenster Denkwege und Verfahren.

Das liegt im Trend: Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht neuerdings vom Menschen als einem Übenden – „Übung macht den Menschen“. (S. 14, „Du musst dein Leben ändern“, 2011).

Und Üben bedeutet ja auch nicht, sinnfrei in der Sonne zu liegen. Auf Ihrem Weg durch die Kurse war eher eine Menge Eigenaktivität gefragt. Wer sich da zu früh ausgeruht hat, dem wurde es vielleicht bald weniger warm ums Herz.

Ihre weiteren ReisebegleiterInnen waren unsere Cateringabteilung, die Mensa, die Ihnen stets den nötigen Reiseproviant geboten hat.
Manchmal gab es auch Sonderkonditionen.
So hörte ich von Kursen, in denen jedeR, der oder die zu spät zu einer Veranstaltung kam, einen Kuchen mitbringen musste.

Nicht zu vergessen ist auch unsere Reiseapotheke und unser Info-Point: Zwar verbrauchen unsere Sekretariate seit der Abschaffung der kleinen Pausen und der Einführung der Doppelstündigkeit meterweise weniger Pflaster, Kühl-Packs und Wärmflaschen, doch sicherlich sind hier heute viele, die dank der Bemühungen von Frau Bültjer, Frau Wallenstein, Frau Tönjes und Frau Barg ihre weitere Reise ohne schwerwiegende Irrtümer und Orientierungsverlust wahrnehmen konnten. Dafür bin ich den Damen sehr dankbar und ich nehme an, das gilt auch für unsere heutigen AbiturientInnen.

Sie, die 212, die heute hier sitzen, haben also vielmehr eine Art Bildungscamp hinter sich, in dem Sie zahlreiche Hürden zu nehmen hatten.

Sie haben sich

Und nun?
Sie sind nun fertig.
Aber gleichzeitig stehen Sie wieder am Anfang.
Was nehmen Sie mit?

Und nun?

Mit dem Abitur haben Sie einen wichtigen Schritt erreicht.

Das niedersächsische Kultusministerium und die Wirtschaft schreiben in der Broschüre, die sich offiziell an Ihren Jahrgang richtet:

„Wir freuen uns auf die jungen Leute, wir brauchen Sie!“

Aber:
Sie müssen auch etwas wollen.
Sie brauchen eine eigene Vorstellung davon, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollen.

Denn, um noch einmal den Philosophen Peter Sloterdijk zu bemühen: nur was sie auszudrücken in der Lage sind, was Sie deutlich sagen können, kann zu einer Veränderung führen.

Es ist dabei nicht immer gut, alles zu glauben, was Ihnen andere raten.
Wenn Sie herausbekommen wollen,
was für SIE gut ist,
was Ihnen Freude macht und
was zu Ihrer Aufgabe auch im Sinne einer GABE werden kann,
das können nur Sie selbst sagen.

Ich zitiere auch sinngemäß meine Kollegin Frau Hermanns-Zilse, wenn ich Ihnen heute den Rat mitgebe, nicht allzu stromlinienförmig zu sein, kritisch zu sein und zu bleiben und sich selbst übend im Sinne Sloterdijks immer neu zu erfinden, wenn Sie an der einen oder anderen Weggabelung stehen werden.

Das geht aber nur, wenn Sie sich klar machen, dass Sie der Boss in Ihrem eigenen Leben sind und dass es vielleicht ab heute noch mehr als vorher um Ihre bewussten ENTSCHEIDUNGEN geht.

Das ist nun Ihr Auftrag, mit dem wir Sie in die Welt schicken:

Wenn Sie nur vor dem Reisebüro Ihres Lebens auf der Straße hin und herlaufen, dann kommt ganz bestimmt niemand heraus und fragt Sie, ob Sie schon einmal darüber nachgedacht haben, zu verreisen und Ihnen Vorschläge unterbreitet und Sie hereinbittet.

Das Reisebüro Ihres Lebens kann nur so gut sein, wie Sie es selbst von ihm verlangen.

Gehen Sie in das Reisebüro Ihres Lebens hinein und sagen Sie dort klar und deutlich, was Sie wollen, was Sie sich wünschen und wovon Sie träumen.

Diese Klarheit wünsche ich Ihnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Kerstin Harjes

2011-07-03,