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Willkommen im sogenannten Draußen

Die theaterwerkstatt in Berlin

Plakat zur Aufführung

Berlin. S-Bahn, Ring:
Eine junge Frau sitzt in verkrampfter Haltung auf einem Sitz im Zug. Ihr Blick ist nach unten gerichtet. Sie liest in einer Tierzeitschrift. Passanten steigen aus und ein, ohne dass sie aufblickt. Die Unsicherheit der Frau überträgt sich auf die Menge. Um sie herum bleibt ein Korridor frei, während in der übrigen S-Bahn Menschen dicht gedrängt stehen. Von der verkrampften Haltung geht eine Spannung aus, die offenbar diesen Raum erfordert. Einige Fahrgäste schauen zur Frau und tuscheln. Andere ignorieren sie, so gut es geht.
Was die Menschen in der U-Bahn nicht ahnen: Jede ihrer Reaktionen wird sorgfältig registriert.

Szenenwechsel: Mitten vor dem Brandenburger Tor steht eine riesige Menge von Touristen. Viele von ihnen fotografieren, machen Selfies, etliche staunen und raunen sich irgendwelche Informationen über das Gebäude zu. Manche genießen einfach die warme Sonne, die Atmosphäre und die Menschen, denen sie einfach bei ihrem Treiben zuschauen. Und irgendwann bleibt der Blick an einer kleinen jungen Frau haften, die offensichtlich ein etwas anderes Interesse am Brandenburger Tor als der Rest der Menge hat. Sie geht ganz nahe an die Säulen heran, befühlt sie, macht sich Notizen. Sie vermisst die Distanz zwischen den Säulen. Orientiert sich an Sichtachsen. Geht in die Knie, untersucht das Pflaster.
Was macht die Frau da? Die umstehenden Passanten vergessen das Tor und betrachten nun das „wissenschaftliche Treiben“. Zwei Kinder mit Fragezeichen in den Augen starren zu der Frau. Ein Anzugträger mit Krawattennadel telefoniert mit dem Handy und bestaunt die Szenerie. Fast vergisst er, seinem Gesprächspartner zu antworten ….

Was keiner der Passanten weiß: Sie werden beobachtet. Überall in der Menge befinden sich Augen, die genau registrieren, wie sie auf die offensichtlich übertrieben an Baukunst interessierte Frau reagieren.

Was hier stattfindet, ist Theater. Die architekturbegeisterte Frau ist keine Erfindung. Wir haben sie genauso gesehen wie die Frau in der S-Bahn. Auf dem Alexanderplatz. Und wir wollen jetzt wissen, was eine solche Frau erlebt, wie sie wahrgenommen wird und wie sie auf die Reaktionen der wahrnehmenden Personen reagiert. Aus diesem Grunde spielen wir diese Figur nach, geben ihr eine Biographie, einen Namen und entlassen sie wieder in die Stadt. Gespannt warten wir auf die Reaktionen der Menschen.

Wir haben viel gesehen.

Wir haben gesehen, dass die Menge eine Stimme hat. Wir haben erlebt, dass ein junges Mädchen, das offenbar die Orientierung im öffentlichen Verkehrsnetz verloren hat und in ihrer Not sich an einen Jungen gewandt hat, der offensichtlich reichlich Selbstbewusstsein, aber auch keinen Plan hatte, von einschreitenden Passanten gerettet wurde.

Wir haben aber auch erleben müssen, dass einem jungen Mädchen, das in der Bravo-Girl Zeitschrift vertieft war und über das sich zwei Menschen in der vollen U-Bahn laut lustig gemacht haben, nicht einmal von der direkten Sitznachbarin Hilfe zuteil wurde.

Die theaterwerkstatt hat wie in den letzten Jahren Konflikte in die Hauptstadt getragen, ohne selbst als Theater in Erscheinung zu treten. Dabei sind alle Personen, die wir eine Woche lang verkörpert haben, Spiegelungen realer Personen, die wir am ersten Tag während einer Stunde aufgenommen haben. Diese Figuren haben uns eine Woche lang begleitet.

Es versteht sich von selbst, dass wir auch diesmal nicht nur gespielt haben, sondern auch tief in die Berliner Theaterszene eingetaucht sind. So konnten wir dieses Mal erleben, dass das grips Ensemble bei der ersten Aufführung nach der Sommerpause kleinere Startschwierigkeiten bei der Umsetzung der Linie 1 hatte. Es ist doch sehr sympathisch, wenn Auf- und Abbauten bei einem Stück, das im grips Theater jetzt mehr als 1400 Mal aufgeführt wurde, einmal nicht so recht klappen wollen. Genauso sympathisch ist es, wenn man miterleben darf, wie professionell derartige Pannen überspielt werden.

Was ist eigentlich in einer Schauspielgruppe los, wenn einige Stunden vor der Premiere eines Stücks der Text nicht sitzt und auch im Handlungsablauf nichts klappt? Im Renaissance Theater sahen wir, wie ein hervorragendes Ensemble bei der Realisation von Michael Frayns „Nacktem Wahnsinn“ brillierte. Mit dabei Katharina Thalbach und Boris Aljinovic. Das zweineinhalbstündige temporeiche Chaos hat uns hinsichtlich des professionellen Timings und der schauspielerischen Finesse begeistert. Die hohe Kunst beim Zuschauen bestand darin, die vielen gleichzeitigen Spielhandlungen möglichst umfassend wahrzunehmen.

Dass Theater auch mal weh tun kann, durften wir tags drauf beim Berliner Ensemble erleben. Die Schauspielerin Carmen Maja Antoni durfte erfahren, wie es sich anfühlt, wenn ein Toilettenspülkasten aus luftiger Höhe versehentlich auf den Kopf fällt. Die Frage nach einem Spielabbruch stellte sich aber offensichtlich für die Schauspielerin nicht. Ihren besorgten Mitakteuren signalisierte sie in ihrer Rolle ein klares „Weitermachen“.
Schmerzen verursachte das provokante Stück „Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab aber auch bei einigen TeilnehmerInnen der theaterwerkstatt. Ein Stück, das weitgehend eine Handlung im herkömmlichen Sinne verweigert, sich auf Sprache in surrealer Umgebung konzentriert und zu Recht in der Theaterkritik als „Fäkalstück“ bezeichnet wird, bricht mit Sehgewohnheiten. Nicht jeder/jede von uns konnte sich darauf einlassen bzw. war so abgeschreckt, dass die ruhige Zuschauerrolle einem Kampf mit eigenen Gefühlen des Ekels und der Abscheu wich. Aber auch das ist eine Erfahrung, die zu langen Diskussionen in unserer Gruppe führte; denn schließlich war diese Zuschauerreaktion vom Autor intendiert. Aber darf man das? Darf Theater verschrecken? Ist Theater nicht immer in erster Linie Unterhaltung?

Aber wurden wir im Grips Theater bei der „Letzten Kommune“ eigentlich unterhalten? Ja, wir haben an vielen Stellen gelacht. Wir waren begeistert von der perfekten Choreographie der musikalischen Einlagen. Aber „Altern und Demenz“ ist kein Thema, das unterhält. Es beschäftigt. Nicht nur uns, sondern auch die Figuren aus drei Generationen des Grips auf der Bühne. Drei Stunden erleben wir das Innenleben einer generationenübergreifenden Kommune, die gegründet wurde, weil Friedrich Puhlmann nicht ins Altersheim will. Gut, er wird langsam vergesslich. Fast hätte er die Wohnung mit dem eingeschalteten Herd abgefackelt. Aber ins Heim: Nein. Und so gründen er und sein Freund Hannes als Altachtundsechziger eine Kommune, die aber auch deutlich jüngere BewohnerInnen aufnimmt. Es knirscht im Gefüge der Generationen. Und dann kommt Josy, eine an Demenz erkrankte, aber in vielen Phasen völlig klare Frau, die aus dem Altersheim in die Kommune flieht.
Das Zusammenleben der Kommunarden gestaltet sich schwieriger als gedacht. Und dann wird Josy zunehmend dementer und beschließt, der Kommune nicht mehr zur Last fallen. Nach einem ihr zuliebe veranstalteten Fest nimmt sie zum letzten Mal ihr Schicksal in die Hand und wählt den Freitod.
Nicht nur die Figuren auf der Bühne fragen sich, ob man den Freitod hätte verhindern können, ja müssen, oder ob man diese letzte Entscheidung nicht auch einfach akzeptieren sollte.
Auch wir sind nach der Vorstellung beschäftigt.

Theater des Jahres, Ensemble des Jahres, Stück des Jahres. Mehr Superlativ geht nicht. Und wir sind gespannt, was die vier jungen Frauen des Maxim Gorki Theaters auf die Bühne bringen werden. Wir sind bei Syblle Bergs „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“. Das Bühnenbild ist schnell beschrieben. Es gibt keins. Lediglich ein eiserner Vorhang begrenzt den hinteren Spielbereich der nackten Bühne. Und dann das: Vier SchauspielerInnen heizen dem Publikum mit ihren textbegleitenden Aktionen derart ein, dass wir kerzengerade sitzen.
Ist das jetzt vier mal die gleiche Frau? Oder sind das vier Frauen? Wir stellen schnell fest: Zweitrangig. Hier wird zunächst mal ein Text präsentiert, ein langer wütender Monolog. Eine Generation, ein Typ Frau der Anfang Zwanziger beschaut ihr Leben. Und es ist ein Leben voller Widersprüche. Schnell wird klar, das Leben da draußen ist für diese Generation eine Bedrohung. In der Wahrnehmung der Welt durch Bildschirme ist viel Bauchgefühl abhanden gekommen. Das Draußen ist fremd und scheint nicht mehr beherrschbar.
Wieder gehen wir nachdenklich und beeindruckt aus dem Theater.

Auf der Rückfahrt zum Hostel schauen wir uns aufmerksam um. Wir sehen die Menschen auf den Straßen, Plätzen in der U-Bahn aufmerksam an.Tatsächlich. Auch Sibylle Berg scheint ihre Figur(en) auf den Straßen und Plätzen der Stadt gefunden zu haben.
Wir wissen es.
Wir waren sechs Tage im sogenannten Draußen.

Text und Foto: theaterwerkstatt, 15.09.2014

2014-09-27,