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In der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 wurden zwanzig jüdische Kinder zumeist polnischer Herkunft, ihre vier Betreuer und eine Gruppe von 24 sowjetischen Häftlingen in einer ehemaligen Schule in der Stadtmitte von Hamburg ermordet. Die Kinder, zehn Mädchen und zehn Jungen, waren nach ihrer Ankunft in Auschwitz von ihren Familien getrennt und auf Wunsch des Arztes Dr. Heißmeyer zum Konzentrationslager Neuengamme deportiert worden. Hier im norddeutschen Raum wurden die Kinder Opfer grausamer medizinischer Experimente, die die NS-Schergen mit der Gewissheit durchführten, dass diese Versuche zum Tode führen würden: Die Probanden wurden mit TBC-Bazillen infiziert; sogleich wurden die Lymphknoten operativ entfernt, so dass keine Abwehrmechanismen des Körpers greifen konnten.
Gegen Ende des II. Weltkriegs, als die Niederlage des Deutschen Reiches offensichtlich wurde, brachte man die Kinder nachts in das Außenlager am Bullenhuser Damm. Sie wurden in dem Kellergewölbe des ehemaligen Schulgebäudes zunächst mit Morphiumspritzen betäubt und danach erhängt, um alle Beweise der Menschenversuche zu beseitigen. Die Barbarei sollte nicht publik werden. [1]
Am 26. November 2013 fuhren die Teilnehmer des Seminarfaches „Auf den Spuren unserer ehemaligen jüdischen Nachbarn“ zur Gedenkstätte, um anhand der Dauerausstellung, zusätzlichem schriftlichen Quellenmaterial und Videoaufzeichnungen von Interviews mit den Hinterbliebenen die geschichtlichen Hintergründe und die Geschehnisse am Bullenhuser Damm für sich zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt standen sowohl die Erarbeitung biographischer Skizzen der Opfer als auch die Analyse der Täterperspektive(n) und deren Motive, sowie die Untersuchung der strafrechtlichen Verfolgung und der juristische Umgang mit den Verantwortlichen vorm britischen Militärgericht in den Curio-Haus-Prozessen in Hamburg.
Es war beklemmend zu erfahren, dass eine solche bestialische Tat „vor der eigenen Haustür“ passiert ist: Die Nationalsozialisten hatten Kleinkinder aus Polen, Italien, Frankreich, Jugoslawien und den Niederlanden ihren Eltern im Konzentrationslager Auschwitz entrissen und in das KZ Neuengamme deportiert; in einer ihnen fremden Umgebung wurden die menschenverachtenden Experimente an den Mädchen und Jungen verübt. In der Nacht des 20. April lockte man die Ahnungslosen mit dem Versprechen „nur geimpft“ zu werden, in jenes Schulgebäude, in dem sie den Tod fanden. Das älteste Kind war 12, das jüngste 5 Jahre alt. [2]
Fünf SS-(Wach-)Männer, welche an der Mordtat beteiligt gewesen waren bzw. diese verübt hatten, konnten gefasst werden. Ihre Argumentation gegenüber vor Gericht, nur auf Befehle von höherer Stelle aus Berlin reagiert zu haben, war nicht überzeugend: Die Täter wurden 1946 vor einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt. Der für die Menschenversuche verantwortliche Arzt Dr. Kurt Heißmeyer konnte 1945 jedoch untertauchen. Von 1946 bis 1963 praktizierte er 17 Jahre unbehelligt als Lungenfacharzt in der sowjetischen Besatzungszone bzw. in der späteren DDR. Obwohl dem Ministerium für Staatssicherheit Hinweise über Heißmeyers Vergangenheit bereits Ende der 50er-Jahre zugetragen worden waren, geschah nichts. Da die Deutsche Demokratische Republik an Ärztemangel litt, wurde laut eines Zwischenberichts des MfS aus dem Jahre 1959 von einer Verhaftung „im Interesse einer ausreichenden medizinischen Versorgung“ abgesehen. Erst als die Beweislast erdrückend wurde, ein entsprechende Artikel im Stern erschien und ein ehemaliger polnischer KZ-Häftling aus Neuengamme Heißmeyer belastete, wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen. Der Haftbefehl erging 1963; der Prozess zog sich. Erst im Oktober 1966 wurde Heißmeyer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Er starb bereits ein Jahr später in der Haftanstalt Bautzen, ohne jemals Reue für seine Verbrechen gezeigt zu haben.
Der ehemalige Stützpunktleiter der Außenlager des KZ Neuengamme in Hamburg Arnold Strippel wurde trotz einer Verurteilung von mehrmaliger lebenslanger Haft wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen im Konzentrationslager Buchenwald nach einem Wiederaufnahmeverfahren 1969 entlassen; die Strafe galt als verbüßt, denn die ehemaligen Taten wurden nunmehr nur als „Beihilfe“-Delikte gewertet – und so erhielt der ehemalige SS-Sturmbandführer zudem eine sehr hohe Haftentschädigung. Versuche, Strippel wegen der Verbrechen am Bullenhuser Damm zur Verantwortung zu ziehen, scheiterten; 1987 wurde ein letztes Verfahren gegen ihn wegen mutmaßlicher Verhandlungsunfähigkeit endgültig eingestellt. [3]
Nach dem Besuch der Gedenkstätte am Bullenhuser Damm und der Verarbeitung der Eindrücke von den Taträumen hat das Seminarfach sich mit dem Thema Erinnerungskultur auseinandergesetzt. Inspiriert von den zuvor erarbeiteten Installationen in Hamburg, fasste der Kurs den Entschluss, selbst aktiv zu werden und ein eigenes, raumgreifendes dreidimensionales Kunstwerk zum Gedenken an die zwanzig ermordeten jüdischen Kinder für den Gedenkort zu konzipieren. Im Vorfeld aller Überlegungen stand der Wunsch, die Erinnerung an die Opfer für die heutige Generation wach zu halten. – Das folgende Zitat der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zur Bedeutung von Gedenkorten erscheint an dieser Stelle passend, um die Motivation zu verdeutlichen:
„Wenn man sich um diese Orte nicht kümmert, geht das Leben über sie hinweg und verwischt die Spuren.“ [4]
Die Hauptintention war (und ist es), jedem einzelnen Kind die eigene Identität wiederzugeben, welche ihm unter dem NS-Terrorregime einst genommen worden ist. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass in der Darstellung alle Kinder gleichwertig nebeneinander stehen, unabhängig von der vorhandenen bzw. nicht mehr vorhandenen Quellenlage, die Aufschluss geben könnte über die Herkunft und Lebensweg der einzelnen Person. Jedem der 10 Jungen und 10 Mädchen [5] sollte die gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden.
Den Tätern wiederum sollte in der Installation keine Aufmerksamkeit geschenkt werden, zumal vor Ort mehrere Zitate von ihnen an den Wänden zu sehen sind, welche die „Banalität des Bösen“ und die Brutalität der NS-Verbrecher visualisieren. Die Täterperspektive wird hinlänglich in der ständigen Ausstellung aufgearbeitet. Die Räumlichkeiten des Tatortes gehören nun vorrangig dem Gedenken der Opfer.
Es war und ist dem Kurs wichtig, dass die Besucher der Installation eine emotionale Nähe zu den Kindern aufbauen können. Es wird kaum realisierbar sein, sich mit den ehemaligen Versuchspersonen zu identifizieren, aber es ist beabsichtigt, dass die Betrachter nach dem Besuch der Gedenkstätte sich noch mit dem Schicksal der Opfer intensiv auseinandersetzen. Eine solche Grausamkeit wie am Bullenhuser Damm geschehen – und vor allem jene Menschen, welche eine solche Grausamkeit am eigenen Leib erfahren mussten – dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
„Die authentischen Gedächtnisorte sind begehbare Geschichtsbücher.“ [6]
Durch die unmittelbare Nähe zum barbarischen Geschehen wird die Erinnerung wahrhaftig. Dadurch dass die Installation sich im tatsächlichen früheren Tatraum befindet, wird die NS-Geschichte konkret; jene von Aleida Assmann postulierte „normative Vergangenheit“ wird vergegenwärtigt. Die Hinrichtung der Kinder in Hamburg offenbart die Grausamkeit und die Schamlosigkeit des nationalsozialistischen Staates in der eigenen Region. Auschwitz war nicht „irgendwo“ fernab auf polnischem Gebiet – Auschwitz war hier direkt vor unserer Haustür.
Die Zielsetzung des Seminarfaches ist es folglich, die Kinder zu ehren und ihnen die Würde wieder zurückzugeben. Es ist ein Versuch, die größtmögliche emotionale Nähe zu den Opfern herzustellen und einen Betrag zu leisten, bei den Besuchern ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu fördern.
Da, wo die Sprache versagt, können womöglich Kunst und Symbolik Botschaften transferieren. Aus diesem Grunde wurden in einem fächerübergreifenden Ansatz exemplarische Werke unterschiedlicher Installationskünstler untersucht, um Ideen für das eigene Schaffen entwickeln zu können; zu diesen zählten Raffael Rheinsberg („Hand und Fuß“) [7], Christian Boltanzki („The Dead Swiss“) [8], Anselm Kiefer („Sternenfall“) [9] und Rebekka Horn („Konzert für Buchenwald“) [10]. Aber auch ein Eintauchen in jüdisches Kulturgut, religiöse Vorstellungen und Symbolik half eine Formsprache zu finden, die in der eigenen Installation verwendet werden konnte. Zum Schluss wurde der Entwurf von Deike de Vries und Victoria Weitz ausgewählt, der durch die Mitarbeit des gesamten Kurses realisiert werden konnte und deren Kurzbeschreibung unten zu lesen ist. Die Ausstellung ist bis zum August 2014 in der Gedenkstätte zu besichtigen.
An dieser Stelle möchten wir uns bei der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e. V., der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Ostfriesland e. V., dem Teletta-Groß-Gymnasium und nicht zuletzt bei der Lebenshilfe Leer e. V. für die finanzielle Unterstützung zur Realisierung der Installation bedanken. Das Team von Thomas Stahlmann hatte eine Woche lang jüdisches Hutzelbrot gebacken, welches die SchülerInnen des Seminarfaches in den Pausen verkauft haben. Der Erlös kam dem Projekt zu Gute.
– Deike de Vries –
Diese Installation wurde im Rahmen des Seminarfachs, „Eine Blume namens Heimat: auf den Spuren unserer jüdischen Nachbarn“, von zwei Schülerinnen des Teletta-Groß-Gymnasiums (Leer) entworfen und sodann mit Unterstützung des restlichen Kurses auch realisiert. Das dreidimensionale Kunstwerk soll der zwanzig Kindern jüdischer Herkunft auf besondere Art gedenken, die am 20. April 1945 im einstigen Schulgebäude am Bullenhuser Damm in Hamburg ermordet wurden:
Im Mittelpunkt der Installation steht ein authentischer Olivenbaum, der im Judentum die Verehrung Gottes und gleichsam die Wertschätzung besonderer Menschen symbolisiert – hier jene 10 Mädchen und 10 Jungen, die für pseudomedizinische Zwecke schwerst misshandelt wurden. Das Bäumchen ist bewusst klein gewählt worden, da die Kinder auch noch sehr klein waren, als NS-Schergen sie ihren Eltern entrissen und von Auschwitz nach Neuengamme deportierten. Obgleich der Raum im Kellergewölbe sehr dunkel ist, wurde auf einen künstlichen Baum verzichtet; das Gewächs sollte echt sein, um Leben, Vitalität und Hoffnung auf eine bessere Zukunft nachfolgender Generationen abzubilden, die ihre Lehren aus der Vergangenheit ziehen.
Um den Olivenbaum ist eine Art Kubus aus durchsichtigen Plexiglasscheiben errichtet. Das transparente Material wurde verwendet, damit der Besucher der Gedenkstätte den Baum mit seiner Symbolkraft stets durchschimmern sieht. Auf den Seiten des Würfels sind zwanzig individuelle Handabdrücke zu erkennen, welche die zwanzig Opfer in ihrer Einzigartigkeit repräsentieren. – Einst hatte man den Versuchspersonen ihre Namen genommen und nur mit „Nummern kenntlich gemacht“. Das Seminarfach wollte mit seiner Installation den Mädchen und Jungen ihre Individualität und Würde wieder zurückgeben. Die Handabdrücke sind in weiß und silber gehalten, um die Unschuld und Reinheit der Kinder zu verdeutlichen.
An der vorderen roten Plexiglasscheibe ist ein Zitat aus dem Alten Testament, dem Fundament der jüdischen Religion, abgedruckt; so heißt es im 1. Buch Mose 28,15: „So spricht der Herr: Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst“. Diese Zeilen sollen den Verwandten und Angehörigen der Kinder sowie den Besuchern der Gedenkstätte Trost spenden. Im Hintergrund ist die häufig auf jüdischen Grabsteinen zu findende Inschrift ת׳נ׳צ׳ ב׳ה׳, zu lesen, deren deutsche Übersetzung lautet: Es sei seine/ihre Seele eingebunden in den Bund des Lebens. Dieser Spruch soll in Kombination mit dem wachsenden Baum verdeutlichen, dass die Kinder in unserer Erinnerung lebendig bleiben.
Buchgeschenke für den gesamten Kurses als Anerkennung für ihre Arbeit durch die Vereinigung und die Leitung der Gedenkstätte
http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de (abgerufen am 25.04.2014 um 16:00 Uhr)
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Zum genauen Tathergang siehe Groschek, Iris und Vaft, Kristina:
„… dass du weiß, was hier passiert ist“ – Medizinische Experimente
im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm, Edition Temmen
Bremen 2012, S. 68–70.
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Zum juristischen Umgang mit den Tätern siehe Groschek, Iris und
Vaft, Kristina: „… dass du weiß, was hier passiert ist“ – Medizinische
Experimente im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm, Edition
Temmen Bremen 2012, S. 79–87.
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http://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/gedenkstaetten/pdf/veranstaltungen/vortrag_assmann_27_1_12.pdf (abgerufen am 23.02.2014 um 15:56 Uhr).
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http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de/die_20_kinder.html (abgerufen am 23.02.2014 um 15:57 Uhr).
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http://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/gedenkstaetten/pdf/veranstaltungen/vortrag_assmann_27_1_12.pdf (abgerufen am 23.02.2014 um 16:07 Uhr).
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http://www.nordbayern.de/nuernberger-nachrichten/kultur/ein-kunstkonzept-mit-hand-und-fuss-1.540101 (abgerufen am 01.05.2014 um 22:33 Uhr).
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http://www.arte.tv/de/die-moeglichen-leben-des-christian-boltanski/2982322.html (abgerufen am 01.05.2014 um 22:34 Uhr).
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http://www.arte.tv/de/die-moeglichen-leben-des-christian-boltanski/2982322.html (abgerufen am 01.05.2014 um 22:36 Uhr).
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http://www.klassik-stiftung.de/uploads/tx_lombkswterm1/Flyer_Rebecca_Horn.pdf (abgerufen am 01.05.2014 um 22:37 Uhr).
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Text: Seminarfach von Frau Claudia Lax „Auf den Spuren unserer ehemaligen jüdischen Nachbarn“ / Fotos: Mara Fasse, Iris Groschek und Claudia Lax
2014-05-06 (letzte Änderung), bo