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Dank der Friedrich-Naumann-Stiftung Für Freiheit fand trotz Corona eine außergewöhnliche Schulveranstaltung am TGG in diesem Frühjahr statt: Die 11c konnte im Rahmen eines Zoom-Meetings ein Gespräch mit dem ehemaligen DDR-Zeitzeugen Thomas Raufeisen im Geschichtsunterricht führen und dabei tiefgreifende Erkenntnisse über die innerdeutschen Beziehungen im Zeitalter des Kalten Krieges sowie den Unterdrückungsmechanismen eines Zwangsstaats gewinnen. Doch lest selbst:
Die sozialistische DDR und die kapitalistische BRD – ein geteiltes Deutschland, geprägt von Intoleranz und Konflikten. Die BRD erkannte die DDR aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruchs nicht an und die Zugehörigkeit zum Ost- beziehungsweise Westblock trieb den Keil noch tiefer zwischen die beiden deutschen Staaten. Der Distanz zwischen den beiden deutschen Staaten wurde mit dem Bau der Berliner Mauer noch mehr Ausdruck verliehen – nun war die innerdeutsche Grenze nicht mehr nur weltbildlich, sondern nun auch zementiert. Vielen von euch sind bestimmt diese uns heutzutage fremden und teilweise unvorstellbaren Ereignisse aus dem Geschichtsunterricht bekannt.
Sowohl politisch als auch ideologisch trennten sich die beiden deutschen Staaten klar voneinander ab. Während die DDR den sozialistischen Idealen folgte, forcierte die BRD ihre Westanbindung und wandte sich dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu. Diese Fakten kennen wir aus dem Unterricht – doch wie war es, in dieser Zeit als Jugendlicher aufzuwachsen?
Wir, die Klasse 11c, hatten die Möglichkeit, mit einem Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen und den hautnahen und authentischen Schilderungen lauschen zu können, was natürlich ein intensives Erlebnis darstellte.
In Form eines Zoom-Meetings trafen wir Herrn Thomas Raufeisen am Vormittag des 26. März 2021 und konnten mit ihm erneut in seine Vergangenheit eintauchen.
Herr Raufeisen arbeitet heute freiberuflich als Besucherreferent in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im Bereich der politischen Bildung. Er bietet Vorträge, Lesungen und Zeitzeugengespräche an und finanziert so unter anderem seinen Unterhalt.
Zudem schrieb er das Buch „Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei“, welches als Biografie aus seinem Leben berichtet. Seine Biografie war die Vorlage von Bettina Renners Film „Unser Vater, der Spion“.
Thomas Raufeisen selbst wuchs in Hannover auf und besuchte dort ein modern ausgestattetes Gymnasium. Seine Lebensumstände in der BRD waren durchschnittlich für die späten 70er Jahren, er hat einen älteren Bruder und sein Vater arbeitete im Industrieunternehmen Preussag. Das sollte sich im Januar 1979 schlagartig ändern: Raufeisens Vater gab vor, die in der DDR wohnhaften Großeltern seien erkrankt. Aus diesem Grund fuhr die Familie über die Grenze nach Ostdeutschland. Zu diesem Zeitpunkt ahnte der 16-jährige Thomas Raufeisen noch nichts und hielt die Reise für einen ganz normalen Familienausflug.
Dann begannen sich allerdings seltsame Ereignisse zu häufen:
Zunächst traf sich der Vater mit Mitarbeitern der Stasi und die Familie wurde zu einem Wohnhaus in der Nähe von Berlin geschleust. Das ist der Moment, in dem die als „Familienausflug“ getarnte Reise aufflog, denn Raufeisens Vater gestand seiner Familie, in der Heimat in Westdeutschland heimlich für die DDR spioniert zu haben. Was darauf folgte, war für alle Beteiligten ein rasanter Umbruch. Die Familie musste praktisch über Nacht nach Ostdeutschland ziehen, um Strafmaßnahmen seitens der BRD zu entgehen. Der bereits volljährige ältere Bruder weigerte sich, die DDR-Staatsbürgerschaft anzunehmen und durfte in Hannover wohnen bleiben.
Thomas Raufeisen sah sich dagegen gezwungen, zusammen mit den Eltern in die DDR überzusiedeln, und musste daraufhin an eine Schule in Ostberlin wechseln. In seinem Vortrag beschreibt er uns die Unterschiede zu seiner modernen Schule in Hannover. In der DDR empfingen ihn ein heruntergekommenes, noch vom 2. Weltkrieg gezeichnetes Schulgebäude und misstrauische Mitschüler, die wussten, dass sein Vater bei der Stasi war.
In der Videokonferenz zeigte uns Thomas Raufeisen außerdem etwas, was uns alle zunächst überraschte: Er hielt das Modell einer Handgranate in die Kamera, die zu seiner Schulzeit an seiner neuen Schule in Ostberlin Teil des Sportunterrichts im Bereich des Weitwurftrainings waren. Hier wurde sehr deutlich, wie ernst die Lage zur Zeit des Kalten Krieges tatsächlich war.
Nun stellten sich uns natürlich zahlreiche Fragen: Hat Thomas Raufeisen sich nicht gewehrt? Hat er jemals versucht zu fliehen, um sein altes Leben zurückzuerlangen? Herr Raufeisen erzählte uns von der traurigen Wahrheit. Seine Familie unternahm mehrere Fluchtversuche, einen sogar mit der Unterstützung der CIA. Jedoch scheiterten alle Versuche. Es wurde erschütternd klar, dass der Familie von keiner Seite Hilfe geleistet wird. Die Raufeisens unternahmen einen Ausflug nach Prag, um in einer deutschen Botschaft Hilfe zu erhalten. Auch dies blieb – leider – erfolglos. Schließlich kamen die Fluchtversuche der Familie ans Licht. Thomas Raufeisen und beide Elternteile wurden durch die Staatssicherheit verhaftet und inhaftiert. Thomas wurde zu einer Haftstrafe von drei Jahren, seine Mutter sogar zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Raufeisens Vater erhielt eine lebenslängliche Strafe. In dieser Zeit verlor er nicht nur seine Freiheit, sondern unter ungeklärten Umständen auch sein Leben. Thomas Raufeisen gab uns einen Einblick in seine Haftbedingungen. Er erklärte, dass man mit ihnen viele Verhöre führte. Es wurden immer die gleichen Fragen gestellt, stunden- und tagelang wurde er wach gehalten. Monatelang beschäftigte man sich mit dem gleichen Thema und den gleichen Fragen, die immer wieder wiederholt gestellt wurden. Somit brachte man die Häftlinge an den Rande des Wahnsinns. Solche Methoden werden als psychische Foltermethoden angesehen. Der Zeitzeuge berichtete uns, dass sich manche seiner Mithäftlinge aus Verzweiflung das Leben nahmen.
Den ernsten Inhalten zum Trotz berichtete uns Herr Raufeisen seine Erlebnisse in einer sehr kurzweiligen und lockeren Art und Weise. Die Klasse nahm ihn auch als humorvoll wahr, was das Gespräch auch unterhaltsam machte. Thomas Raufeisen hat nicht nur die DDR kritisch reflektiert, sondern war einen solchen Blick auch auf die BRD. Er kommentierte beide Systeme sehr nüchtern, was für uns interessant war. Wir als Klasse sind sehr dankbar, einen solch privaten Einblick in das Leben zur Zeit der DDR erhalten zu haben. Das Gespräch war nach unserem Empfinden in hohem Maße von Authentizität geprägt. Als Klasse 11c sind wir dankbar für Herrn Raufeisens lehrreichen Vortrag.
Einleitung: Claudia Lax / Artikel: Valeria Rudi, Wiebke Rose und Paulina Herbst / Foto: Friedrich-Naumann-Stiftung Für Freiheit
2021-06-16, bo