Zum Inhalt springen

Siehe auch

Sie sind hier: Startseite > TGG > Presseberichte > OZ vom 12.11.2005

„Geschichte selbst zu entdecken, ist geiler“

BEGEGNUNG Schüler aus Elblag, Berlin und Leer erforschten im Stadtarchiv die letzten Kriegstage.

Die gemeinsame Arbeit wird mit einer Dokumentation abgeschlossen. Grundlage waren Protokolle, Chroniken und Zeitungsartikel.

Von Gabriele Boschbach

Foto vom Empfang vom Bügermeister

Bürgermeister Wolfgang Kellner begrüßte die Schüler aus Berlin, Elblag und Leer, die am Mittwoch und Donnerstag im Stadtarchiv Material über die letzten Tage des Krieges zusammengetragen haben.

Leer – Am Mittwoch und Donnerstag verwandelte sich der Festsaal des Leeraner Rathauses vorübergehend in eine Zweigstelle des Archivs. Auf den Tischen türmten sich Akten, Schriften, Bücher: alles schriftliche Zeugnisse dessen, was sich in Leer während der letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs abgespielt hat. Rund 25 Jugendliche versenkten ihre Köpfe in Zeitzeugenberichten, Protokollen, Rechnungen, Chroniken. Die Schüler des Teletta-Groß-Gymnasiums, der Flatow-Oberschule in Berlin und des 5. Lyzeums in Elblag haben ein gemeinsames Ziel: eine Dokumentation über das Kriegsende in Leer zu erstellen.

Dazu zählt auch die Beschäftigung mit dem Schicksal der Fremdarbeiter im Landkreis Leer. Vor Normen Zok, einem Schüler der Flatow-Oberschule, liegt ein verblichener Ordner, angefüllt mit Rechnungen über Decken. „Die Verwaltung hat sich damals von allen Geschäften Angebote zusenden lassen“, sagt der 16-Jährige und zieht einen Kostenvoranschlag des ehemaligen Leeraner Bettenhauses Fesenfeld aus dem Stapel hervor. Sein Mitschüler Vincent Förster studiert währenddessen eine vom Archiv der Stadt Leer herausgegebene Chronik der letzten Kriegstage in Leer. „Es hat mich besonders schockiert zu sehen, wie sehr die Nazi-Propaganda verinnerlicht worden ist. Ich habe Schreiben gefunden, in denen sich Einwohner darüber beschwert haben, dass sie sich gemeinsam mit osteuropäischen Fremdarbeitern beim Einkaufen in eine Schlange stellen müssen“, sagt der 15-jährige Schüler aus Berlin. Zu denken gegeben hat ihm auch eine Liste, in der die Geldstrafen aufgeführt wurden, die Fremdarbeitern bei kleinsten Auffälligkeiten auferlegt wurden.

Die Schüler arbeiten in gemischten fünf- bis sechsköpfigen Arbeitsgruppen. Jede hat sich einen speziellen Aspekt des Themas ausgesucht. Vor dem Besuch des Leeraner Rathauses haben die Jugendlichen zusammen mit ihren Lehrern das Anne-Frank-Haus in Amsterdam und das Dokumentations- und Informationszentrum in Papenburg besucht. Die Akten aus dem Leeraner Archiv wurden den Jugendlichen von der Archivpädagogin Menna Hensmann zur Verfügung gestellt, die auch Fragen beantwortete.

An dem Feuereifer, mit dem die Jugendlichen bei der Sache waren, merkte man, dass diese unmittelbare Form des Geschichtsunterrichts bei ihnen sehr gut ankommt. „Es ist einfach viel geiler, etwas in den Akten selbst zu entdecken, als schon bereits gefiltertes Wissen aus Geschichtsbüchern zu beziehen“, sagt Normen Zok. Außerdem hat die gemeinsame Arbeit noch einen positiven Nebeneffekt: Zwischen den Schülern haben sich Freundschaften gebildet. Bereits im vergangenen Jahr wurden viele Mails zwischen Elblag, Leer und Berlin ausgetauscht.

Schülerprojekt

Den Austausch zwischen Schülern aus Leer, Elblag und Berlin gibt es bereits seit zehn Jahren. Er wurde initiiert von Rolf von der Recke, Lehrer am Teletta-Groß-Gymnasium, und Rüdiger Schwandt, Lehrer an der Flatow-Oberschule in Berlin. Die Themen werden jedes Jahr neu ausgewählt, meist mit Blick darauf, deutsch-polnische Fragen zu berühren.

Vor einigen Jahren haben die Jugendlichen zu dem Thema „Heimat Europa“ in Brüssel recherchiert. Im folgenden Jahr waren die Schüler in Elblag und haben sich vor Ort einen Eindruck davon verschafft, wie EU-Projekte in Polen umgesetzt werden.

Das diesjährige Treffen wäre wegen finanzieller Probleme fast nicht zustande gekommen. Ein Leeraner Arzt, der nicht genannt werden möchte, hat sich mit seiner Frau sehr dafür engagiert, dass das erforderliche Geld zusammenkam. Die beiden haben in vielen Telefonaten Sponsoren akquiriert.

Aus der Ostfriesen-Zeitung vom 12. November 2005, S. 24

2005-11-16, sh