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Liebe Goldene Abiturientinnen,
liebe Eltern,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste und Ehrengäste,
last but not least, liebe Abiturientinnen und Abiturienten:
Lassen Sie mich mit einer Reverenz an den Jahrgang beginnen:
Auf der Suche nach den Ursachen für die zuletzt geschilderte Charakterisierung
kann man ins Grübeln geraten:
Eine mögliche Erklärung für die fehlende Einsicht ist, dass sich jede nachwachsende
Generation gegen Auflagen der sie betreuenden Institutionen wehrt und dies als
unwürdig und eingrenzend empfindet.
Sicherlich kann es auch sein, dass sich die Schüler gerne mit den Kolleginnen
und Kollegen anlegen, die Reibungsflächen bieten oder mit ihrem Naturell
polarisieren.
Es hängt auch davon ab, welche Einstellungen sie bereits in die Schule mitbringen.
… es befinden sich einige ehemaligen Schülerinnen und Schüler als Eltern unter uns!
Oder aber sie sind dies bereits Anzeichen des von den Medien diskutierten
und in einer großen Boulevardzeitung ausgerufenen ‚Erziehungsnotstands’?
Kai Diekmann, Chefredakteur der Bildzeitung und Bernhard Bueb, pensionierter
Schulleiter des Elite Internats Salem, von der Bildzeitung zu ‚Deutschlands
strengstem Lehrer’ ernannt, gehen sogar davon aus, dass es zu einem neuen
‚Bildungsnotstand’ gekommen sei, den vor allem die 68er Generation zu verantworten
hat.
Lassen sie mich nur wenige Sätze über diese Zeit verlieren, die auch meine
Erziehungsprinzipien in Beruf und Familie entscheidend geprägt hat. Den so
genannten 68er widmen jetzt, 40 Jahre danach, überregionale Zeitungen viel
Aufmerksamkeit, selbst die OZ hat versucht, eine Serie daraus zu machen.
Die Herrn Diekmann, Bueb und andere wie Wulf Schönbohm, Ex-General und
brandenburgischer Innenminister, entdecken in den damaligen Veränderungen
die Ursachen für den von Ihnen beschworenen heutigen Bildungsnotstand und
fordern ein klares Umsteuern.
Als Zeitzeuge kann ich nur sagen, dass die damaligen Veränderungen dringend
nötig waren. Schönbohm beklagt selbst den von ihm so genannten Mief der 1960er
Jahre. Ich habe ihn als Ergebnis der engstirnigen, emotionsfeindlichen
Nachkriegs-Zeit empfunden, in der die wirtschaftliche Erfolge mit überkommenen
Normen und Konventionen eng verbunden waren. Es wurde dringend Zeit, dass
die damals vorherrschenden Erziehungsprinzipien verändert wurden. Es ist aber
eine Vereinfachung von Bueb, Diekmann und Schönbohm, die Gegenbewegung aus den
60er Jahren pauschal als gescheiterte Anti-Autoritäre Erziehung zu bezeichnen,
die die deutsche Bildungslandschaft infizierte hat und zu den heutigen Zuständen
geführt hat.
Dies ist weder der Ort noch der richtige Zeitpunkt ausführlicher darauf einzugehen.
Nur soviel: Die aus den 60er Jahren resultierenden positiven Veränderungen
im zwischenmenschlichen Zusammenleben begegnen mir jeden Morgen beim Betreten
dieser Schule, die ja glücklicherweise seit den frühen 70er Jahren ein koedukatives
Gymnasium ist. In und vor dem neuen Foyer schließen sich diverse Pärchen glücklich
in die Arme, um noch vor dem stressigen Unterrichtsstunden längst überfällige
Streicheleinheiten auszutauschen.
Nett …, aber undenkbar zur Zeit unserer Goldenen Abiturienntinnen aus dem Jahre
1958 (wir kennen all die alten Geschichten, wie sich die Schüler des Gymnasiums
und des Lyzeums versuchten, näher zu kommen), derartige Gefühlsbezeugungen
waren auch in meiner Schulzeit bis zum Abitur im Jahre 1965 tabu, auch noch
riskant im Jahre 1973, als ich an einem Nachmittag die damalige Teletta-Groß-Schule
mit der gestrengen Frau Direktorin Meyer an der Spitze zum ersten Mal betrat.
Eher informell gekleidet, in Jeans, mit einem deutlich längerem Bart, längeren
Haaren, und mit meiner 4jährigen Tochter an der Hand.
… bei aller Toleranz gegenüber der jungen Menschen im Foyer, ein abschließender
Blick auf die Diskussionen mit den Rauchern, Mehltäufern, Handybenutzer.
Wenn wir auf die Einhaltung der Schulordnung pochen, sind das nicht die
Verhaltensweisen, zu denen uns Bueb als Erzieher in seinem Buch aufruft, wenn
er sagt ,… Mut zur Erziehung heißt vor allem Mut zur Disziplin‘ oder an anderer
Stelle behauptet ,… Jugendliche sehnen sich nach Autorität‘. Diese Forderungen, die
er mit wenigen praktischen Beispielen aus Salem untermauert, sind mir aber zu
kurz gegriffen. Natürlich hat uns nie der Mut zur Erziehung gefehlt, aber gibt
es nicht plausiblere Erklärungen dafür, wieder deutlichere Strukturen vorzugeben,
als Fallbeispiele aus einem Internat vorzulegen?
Mich haben die Erklärungen des Hannoveraner Erziehungswissenschaftlers Thomas
Ziehe überzeugt. Er leitet aus den Veränderungen der 60er Jahre ganz konkrete
Verhaltensmuster der heutigen Jugendlichen ab und weist klare Wege auf, damit
umzugehen. Knapp zusammengefasst, Ziehe sieht durch die deutlichen Veränderung
der Formen des Zusammenlebens seit dieser Zeit, dem Abbau der alten Hierarchien
und Traditionen erhebliche Auswirkungen auf die Jugendlichen. Bei den Jugendlichen
von heute haben sich der Wissenserwerb, die sozialen Verhaltensformen und die
Motivlage total verändert. Und auch dieses nur verkürzt wiedergegeben: auch
die Schule hat sich erheblich verändert und sich dieser Entwicklung angepasst,
sie ist informeller geworden und bietet den Schülerinnen nach Ziehe, kein ,Geländer‘
mehr, an dem diese sich festhalten können, die Schüler schaffen sich stattdessen
ihre Eigenwelten, in denen die über die Medien verbreitete Pop-Kultur eine große
Rolle spielt.
Auf die Umgangsformen in der Schule bezogen, ist es nach Ziehe dringend geboten,
die Informalität zu beenden und wieder stärker auf Regeln, Vereinbarungen und
Rituale zu setzen, um den Jugendlichen das sprichwörtliche ,Geländer‘ anzubieten.
Ich hoffe damit meinen Diskussionspartnern auf dem Gaswerkstraßen-Rondell und dem Parkplatz an der Heisfelder Straße nachträglich überzeugende Argumente für mein Handeln geliefert zu haben.
Trotz einiger nachdenklicher Momente, hat mir in der Summe die Zeit mit
Euch viel Spaß gemacht.
Im Namen des Kollegiums des Teletta-Groß-Gymnasiums möchte ich Euch und Euern
Eltern noch einmal ganz herzlich zum bestandenen Abitur gratulieren und die
Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass Euch die Zeit zusammen mit uns Lehrerinnen
und Lehrern an dieser Schule gut auf die vor Euch liegende Zukunft vorbereitet hat.
Macht’s gut!
Vielen Dank
Jörg Kenter
2008-07-02, bo