Zum Inhalt springen

Siehe auch

Sie sind hier: Startseite > Projekte > Kinderschicksale > Ausstellung

Ein Rundgang durch die Ausstellung

Deckblatts des Readers zur Ausstellung

Foto der ehemaligen jüdischen Schule Flyer zur Ausstellung

Im Sommer 2011 hat der Landkreis Leer das Haus Nr. 12 in der Ubbo-Emmius-Straße gekauft, das ursprünglich als israelitische Schule von der Leeraner Synagogengemeinde 1909 errichtet und in dieser Funktion bis 1939 genutzt worden ist. Nach der Reichspogromnacht und der Versagung jeglicher finanzieller Unterstützung durch die Stadt sah sich die jüdische Gemeinde letztlich genötigt, das Gebäude zu verkaufen (siehe hierzu das Exponat von Marco Stöhr und Lukas Straat). Lange Zeit verblieb das Haus in Privatbesitz; nun wird es als Gedenk- und Begegnungsstätte wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht! Aus aktuellen Anlass hat sich das Seminarfach „Eine Blume namens Heimat: auf den Spuren unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger der Stadt Leer“ sowie die gleichnamige Arbeitsgemeinschaft des TGG der Geschichte der Institution gewidmet – mehr noch, die SchülerInnen haben versucht anhand von Originaldokumenten aus dem Stadtarchiv Leer, dem Staatsarchiv Aurich und Privatsammlungen der Nachkommen die Schicksale jener Menschen nachzuzeichnen, die im Haus gelernt, gelehrt und gelebt haben (wie z. B. Wolf Nathan Weinberg; siehe hierzu die Ausarbeitung von Wiebke Tuitjer).

Foto des Zeitzeugen Albrecht Weinberg mit Thomas Hillbrands Gespräch mit einem Zeitzeugen

Immer da wo möglich haben wir versucht, zu Überlebenden bzw. zu den nachfolgenden Generationen Kontakte zu knüpfen. Unsere Zielsetzung war und ist es, mehr über unsere jüdischen Nachbarn von damals und der jüdischen Kultur von heute zu erfahren, um Brücken zu bauen. An dieser Stelle möchten wir uns sehr herzlich für die Unterstützung jener Zeitzeugen bedanken, die selber die jüdische Schule besucht haben und uns bereitwillig von ihren Erlebnissen in Ostfriesland unter der NS-Diktatur zu berichteten. Wir sind uns dessen bewusst, wie schmerzhaft es sein muss, die Gräueltaten in Zeiten der Verfolgung wieder in Erinnerung zu rufen. Auch für die zweite Generation hat die Shoah ihre Schatten weit geworfen; auch für sie ist es schwer, über die Folgewirkungen des Holocausts zu reden. Mit ihrer Hilfe haben wir versucht, der Opfer des NS-Regimes vor Ort zu gedenken. Die Ausstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – dies wäre auch angesichts des Themas unmöglich. Aber es ist ein Anfang für uns, sich dem Unfassbaren zu nähern und exemplarisch Schicksale von jüdischen Mitbürgern aufzudecken, die in unserer Heimatstadt einst gelebt haben.

Foto des Zeitzeugen Albrecht Weinberg mit Thomas Hillbrands Nemo beim Denkmal Foto von Menna Hensmann (URI der Seite mit dem Bild: http://www.mojalodz.fora.pl/ii-wojna-swiatowa,168/getto,1320.html)

Die Quellenlage ist problematisch. Wohl sind die Bauakten einsehbar und die Korrespondenz zwischen der ehemaligen Synagogengemeinde und der Stadtverwaltung Leer ist reichhaltig, doch fehlen die Melderegister der Schüler und Schülerinnen, welche die pädagogische Einrichtung besucht haben; Klassenbücher, Zeugnisse und weiteres Aktenmaterial der Schulverwaltung sind nicht mehr vorhanden. Umso dankbarer sind wir Gernot Beykirch, Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der uns mit seinem Werk „Jüdisches Lernen und die Israelitische Schule Leer zur Zeit des Nationalsozialismus“ eine wertvolle Einführung in die Thematik bot und für Fragen immer zur Verfügung stand. Nicht minder dankbar sind wir der Stadtarchivarin Menna Hensmann, die uns mit Bild- und Schriftquellen versorgte.

Die Seminarfachteilnehmer bei der Arbeit im Stadtarchiv Die Geschichts-AG bei der Arbeit

Viele der Exponate sind aus den Forschungsergebnissen der Seminar-Facharbeiten des Oberstufenkurses erwachsen. Doch auch SchülerInnen der Sekundarstufe I und II haben in der AG Powerpointpräsentationen und Plakate erstellt (siehe hierzu insbesondere die Videosequenz von Berend Heyken). In den meisten Fällen sind biographische Skizzen der jüdischen Mädchen und Jungen entstanden, die Ende der 20er Jahre bzw. in den 30er Jahren die israelitische Schule in Leer besucht haben.

Foto von Lasser Abt 1917 mit Familie Erich Abt als Kind Lehrerwohnung in der jüdischen Schule

Am Anfang unserer Ausstellung zeigen wir ein Foto aus dem Jahre 1917, d. h. aus einer Zeit vor der Verfolgung. Abgebildet ist eine Familie, deren jüngstes Kind die typische Mode der Wilhelminischen Ära trägt: einen kleinen Matrosenanzug. Die Leeraner Kinder jüdischen Glaubens unterschieden sich nicht von anderen Gleichaltrigen. Sie waren – so scheint es – in der Leeraner Gesellschaft integriert, besuchten die gleichen Schulen und waren Mitglieder in denselben (Turn-)vereinen wie die anderen ostfriesischen Mädchen und Jungen, die den unterschiedlichsten Glaubenskonfessionen vor Ort angehörten: Mennoniten, Katholiken, Lutheraner und Reformierte.

Die Aufnahme portraitiert den ersten Lehrer und Leiter der jüdischen Schule Lasser Abt, der 1909 das neu errichtete Gebäude an der damaligen Deichstraße mit seiner Familie beziehen durfte. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Rosa und den Kindern Alfred, Harry, Erna und Erich lebte er in der Wohnung in der ersten Etage des Hauses. Zu diesem Zeitpunkt besuchten ungefähr 25 Mädchen und Jungen den Elementarunterricht der israelitischen Volksschule. Wir können vermuten, dass weitere 22 Kinder der jüdisch orthodoxen Gemeinde das Angebot des Religionsunterrichtes am Nachmittag wahrnahmen [1].

Lasser Abt hat die Nazidiktatur nicht miterleben müssen. Auch seine einzige Tochter Erna verstarb vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1930 in Köln. [2] Der Rest der Familie sah sich in Hitler-Deutschland gezwungen, vor den NS-Schergen zu fliehen. Es gelang Frau Abt mit ihrem jüngsten Sohn Erich 1937 nach Palästina, dem heutigen Israel, zu emigrieren. So konnte sie ihr Kind retten. Auch ihre zwei anderen, nunmehr erwachsenen Söhne verließen ihr Zuhause, um letztlich in Südafrika der Shoah zu entkommen. Nur wenige konnten sich im Ausland in Sicherheit bringen; für manche war auch die vermeintliche Sicherheit trügerisch: Für Rosa Abt war die Zeit im Exil unerträglich; sie konnte sich nicht in der ihr fremden Umgebung einleben und kehrte in die alte Heimat zurück, die nicht mehr ihre Heimat war. Die Sehnsucht nach dem ehemaligen Zuhause, wo ihre Sprache gesprochen wurde und die Landschaft vertraut war, war übermächtig. Kaum in Nazideutschland zurückgekehrt, wurde Rosa Abt am 15. September 1942 von Frankfurt am Main nach Theresienstadt deportiert. Laut dem Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz starb Rosa Abt im Ghetto am 13. März 1942.

Das Familienfoto aus vergangenen Tagen steht aus einem weiterem Grunde am Anfang unserer Ausstellung: Erich Abt, der Junge im Matrosenanzug, der seiner Wurzeln in Ostfriesland beraubt wurde, die Heimat verlassen musste und dessen Mutter im Ghetto starb, hat trotz der Verluste und des Schmerzes im hohen Alter wieder den Kontakt zu Leer aufgenommen. Anfang der 80er Jahre hat er gemeinsam mit Johannes Röskamp Adressen der NS-Opfer recherchiert sowie den ersten Besuch der Überlebenden in Leer im Jahre 1985 vorbereitet und organisiert. Dies war der Beginn der Kontaktpflege zu unseren ehemaligen jüdischen Mitbewohnern der Stadt Leer und deren Nachkommen.

Klassenfoto mit Lehrer Popper klassenfoto um 1935-36 mit Lehrer Hermann Spier

Im Verlauf der Aufarbeitung der jüdischen Geschichte vor Ort und den Gesprächen mit den Zeitzeugen wurde uns sehr schnell bewusst, dass die jüdische Schule mehr war als eine Erziehungsanstalt (siehe hierzu das Exponat von Wiembke Heitkötter). Sowohl für die Lehrkräfte als auch für die Lernenden stellte die Schule ein Zuhause dar. Gerade in Zeiten der Diskriminierung und Ausgrenzung, Unterdrückung und Verfolgung bot die jüdische Schule einen Ort der Sicherheit und Zuflucht, des Zusammenhalts, der Identitätsstiftung und des gestärkten Selbstvertrauens. Hier waren die jüdischen Kinder unter sich, wurden nicht beschimpft oder schikaniert, sondern konnten sich gegenseitig stützen. Hier durften sie lernen und ihre Religion ausleben. Und hier war es ihnen möglich, sich mittels des Ivrit- und Englischunterrichts auf eine spätere Auswanderung vorzubereiten (zu den Lerninhalten siehe die Ausarbeitungen von Mareike Scheffer und Keno Baumann).

Als einmal im Unterricht das Projekt vorgestellt und ein altes Klassenfoto gezeigt wurde, kommentierte ein Schüler das Bild mit den Worten, dass es sich bei der Aufnahme um eine Familie handelte. In der Tat kann man diesen Eindruck gewinnen. Aus diesem Grunde stehen die beiden verbleibenden Klassenfotos, die wir im Stadtarchiv finden konnten, im Zentrum der Ausstellung. Es handelt sich einmal um ein Foto von SchülerInnen der jüdischen Schule des Jahrgangs 1928/29 mit ihrem Lehrer Ignaz Popper. Manche dieser Kinder sind auch auf dem zweiten Klassenfoto mit der Lehrkraft Hermann Spier zu entdecken, das vermutlich im Schuljahr 1935/36 aufgenommen wurde, wie z. B. Carla Gans. Sechs der abgebildeten Schülerinnen besuchten im Anschluss der Elementarausbildung das damalige Mädchengymnasium, wie zum Beispiel Bertha Roseboom genannt Betti, Sicilia de Vries und Senta Driels (siehe die kleinen Fotos in der entsprechenden Reihenfolge unten). Es ist naheliegend, dass gerade die Schicksale dieser Schülerinnen uns, die wir am TGG arbeiten, besonders rührten. Und so hat sich Sebastian Pietryga besonders den Themenkomplexen gewidmet, unter welchen Umständen die jüdischen Gymnasiastinnen sich gezwungen sahen, frühzeitig das Lyzeum zu verlassen – und was aus ihnen geworden ist.

Foto von Betti Roseboom Foto von Sicilia de Vries Foto von Senta Driels

Rings um die Klassenfotos in der Mitte des Raums werden einzelne Portraits von Kindern, deren Schicksale wir ermitteln konnten, aus dem Gesamtbild „heraus gezoomt“ und näher betrachtet. Sie können mehr über deren Lebensläufen auf den Plakatwänden erfahren.

Viele der jüdischen Kinder, die einst in Leer geboren wurden und hier die Schule besuchten, haben die Shoah nicht überlebt. Betti Roseboom gilt bis heute als verschollen. Sicilia de Vries, die letzte gemeldete jüdische Schülerin am TGG, ist in Auschwitz ermordet worden. Drei der vier Lehrkräfte, Ignaz Popper, Hermann Spier und Seligmann Hirschberg, die jeweils im Haus Nr. 12 der damaligen Deichstraße gewohnt hatten und die Schule leiteten, verloren in den NS-Konzentrationslagern ihr Leben. Von den rund 28 Kindern, die vermutlich im Schuljahr 1935/36 die jüdische Volksschule besuchten und teilweise auf dem Klassenfoto mit Hermann Spier identifiziert werden können, sind 11 getötet worden (vgl. hierzu die Liste von Nemo Janssen). [3]

Nur wenigen ist die sichere Flucht gelungen wie z. B. Senta Driels, die über Großbritannien nach Kanada emigrierte. So erwiesen sich die Kindertransporte nach England und Palästina für manche als Rettung wie z. B. für jene Senta Driels, die Geschwister Henny und Berna Spier sowie Jechiel Hirschberg, der Sohn des letzten Lehrers an der jüdischen Schule in Leer. Aber sie bedeuteten in der Regel die endgültige Trennung von der eigenen geliebten Eltern, die zumeist Anfang der 40er Jahre deportiert wurden und in den Konzentrationslagern im Osten des Reiches ihr Leben verloren (siehe hierzu die Ausarbeitungen von Hannah Peters, Maike Ahlers und Jonathan Disselhoff).

In wenigen Fällen – wie bei der Familie Gans, die noch vor der Reichspogromnacht in die USA emigrierten – verfügten die Eltern über ausreichende finanzielle Mittel, eine derartige weite, kostspielige Reise anzutreten und eine neue Existenz für die gesamte Familie in einem fremden Land aufzubauen. Es bedurfte sowohl Mut, ganz von vorne anzufangen, aber auch zumeist familiäre Verbindungen im Ausland. Die Mehrzahl der ostfriesischen Juden waren Viehhändler, deren ökonomische Situation eine gesicherte Existenzgründung für alle Familienmitglieder in Übersee nicht zuließ. Und die Flucht in die Niederlande, wie im Falle von Abraham Grünberg, erwies sich als verhängnisvoll, nachdem die deutsche Armee das Nachbarland okkupierte.

Albrecht Weinberg und Rabbiner Manfred Gans im Gespräch Foto von Heinz Menkel

In einigen Ausnahmefällen haben ehemalige jüdische Kinder der israelitischen Schule vor Ort die unmenschlichen Lebensbedingungen der Inhaftierung und der Schikane im Konzentrationslager überlebt – und sind sogar nach Leer zurückgekehrt. Thomas Hilbrands hat die Odyssee von Albrecht Weinberg (linkes Bild, hier zusammen mit Rabbiner Manfred Gans) auf einer Geschichtskarte eingezeichnet, der trotz aller Misshandlungen Auschwitz und die Todesmärsche bis nach Bergen-Belsen überstand. Anna Graß hat sich vornehmlich den Schicksalen der Familienmitglieder von Albrecht Weinberg gewidmet. Henning Dreyer hat mittels von Prozessakten die Biographie des Heinz Menkel (kleines Foto oben rechts) skizziert, der als einer der Wenigen dem Tod im Ghetto Minsk entging, nach Ostfriesland zurückkehrte und jahrelang für eine Entschädigungsleistung kämpfen musste. Sein Exponat illustriert ein weiteres düsteres Kapitel unserer Geschichte, wie in Deutschland auch nach 1945 der Leidensweg eines Holocaust-Überlebenden nicht enden wollte.

Foto von Manfred Gans im Kindesalter Foto von Henny Spier Foto von Senta Driels

Die Untersuchung der Lebensläufe der ehemaligen jüdischen Kinder zeigt noch eine weitere Besonderheit. Das soziale Engagement der Shoah-Überlebenden, die sich für Schwächere einsetzten, den Unterdrückten eine Stimme gaben und für eine Verständigung mit den Deutschen eintraten, ist bemerkenswert. Stellvertretend sei hier zunächst der Rabbiner Manfred Gans genannt, der die „Otsar Family Services“ ins Leben gerufen hat – eine Organisation, die sich der Unterstützung und Förderung von Kindern mit Trisomie 21 widmet (siehe hierzu z. B. die Ausarbeitung von Jakoba Bunjes). Henny Rednall geb. Spier, die Tochter des Lehrers Hermann Spier, war lange Zeit im Vorstand des AJR tätig, des „Birmingham Centre of the Association of Jewish Refugees“, die den jüdischen Flüchtlingen (der Kindertransporte) in Großbritannien eine Stimme verlieh. Letztlich kann die Bedeutung von Erich Abts Handeln für die heutige Kontaktpflege zwischen der Stadt Leer bzw. der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und den ehemaligen jüdischen Mitbewohnern Ostfrieslands und deren Nachkommen nicht hoch genug geschätzt werden. Unsere Ausstellung versteht sich als einen kleinen Beitrag, den Opfern des NS-Regimes ein Gesicht zu geben, sie zu würdigen sowie den Wunsch nach Verständigung mit den nachfolgenden Generationen wach zu halten.

Einweihung der Jugendherberge 'Manfred Gans' Seminarfachteilnehmer mit Frau Flure

Seminarfach- und AG-Teilnehmer, die die Ausstellung konzipiert und erarbeitet haben: Maike Ahlers, Keno Baumann, Jakoba Bunjes, Jonathan Disselhoff, Henning Dreyer, Anna Graß, Wiembke Heitkötter, Berend Heyken, Thomas Hilbrands, Nemo Janssen, Jakob Kayser, Hannah Peters, Sebastian Pietryga, Mareike Scheffer, Marco Stöhr, Lukas Straat, Wiebke Tuitjer.

Anmerkungen

[1]

Beykirch, Gernot: Jüdisches Lernen und die israelitische Schule Leer zur Zeit des Nationalsozialismus, Band 15 Regionale Schulgeschichte, Oldenburg Bis-Verlag 2006, S. 33
[Zurück zum Text]

[2]

Dokumentation der Stadt Leer 1933–45, zusammengestellt von Menna Hensmann, Leer 2001, S. 128
[Zurück zum Text]

[3]

Siehe hierzu die Tabelle bei Beykirch, Gernot: Jüdisches Lernen und die israelitische Schule Leer zur Zeit des Nationalsozialismus, Band 15 Regionale Schulgeschichte, Oldenburg Bis-Verlag 2006, S. 80–83
[Zurück zum Text]

Claudia Lax

2013-05-25,