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Karl Polak und sein älterer Bruder Walter in Weimarer Zeit
Karl Polak in den 50er Jahren, nachdem er in seine Heimatstadt Leer zurückgekehrt ist
Das Seminarfach Eine Blume Namens Heimat – auf den Spuren unserer ehemaligen jüdischen Mitbewohner und die gleichnamige Arbeitsgemeinschaft haben sich in den letzten zwei Jahren bemüht, Einzelschicksale anhand von Originalquellen aus dem Stadtarchiv Leer und dem Staatsarchiv Aurich nachzuzeichnen. Immer da wo möglich, haben wir versucht, zu Überlebenden bzw. zu den nachfolgenden Generationen Kontakte zu knüpfen. Sie leben heute an den unterschiedlichsten Orten in der Welt. Unsere Zielsetzung war und ist es, mehr über unsere jüdischen Nachbarn von damals und der jüdischen Kultur von heute erfahren, um Brücken zu bauen. Ein paar der Ergebnisse unserer Bemühungen können nun im Leeraner Rathaus besichtigt werden. Die Ausstellung konzentriert sich vornehmlich darauf, zwei konkrete Personen vorzustellen, denn der individuelle Zugriff kann den Opfern einen Namen, ein Gesicht geben.
Der erste Name ist Karl Polak. Er ist einer der wenigen Leeraner Juden, die Auschwitz überlebt haben und trotz aller furchtbaren Erlebnisse und Erinnerungen in ihre Heimatstadt zurückgekehrt sind. Ihm haben wir eine sehr wertvolle Quelle zu verdanken, in der er u. a. von seinen missglückten Fluchtversuchen nach der Reichspogromnacht vor Ort und den Misshandlungen im Konzentrationslager berichtet. Im Saal 2 im Erdgeschoß werden die einzelnen Etappen seiner Odyssee in chronologischer Reihenfolge, vom Ende der Weimarer Republik bis hin zur frühen BRD, vorgestellt.
Hanna Waldmann hat in ihrem expressiven Gemälde versucht, Karl Polaks und Primo Levis Schilderungen von Auschwitz zu visualisieren.
Jannis Vogt hat die Schilderungen des Karl Polak in einem eigens komponierten Musikstück vertont. Die CD wird ebenfalls im Saal 2 abgespielt. Die Musik lässt den Zuhörern den Lebens- und Leidensweg des Zeitzeugen nachempfinden: die Erinnerung an die alte Heimat gab Karl Polak Kraft, alle Torturen in Auschwitz und auf den Todesmärschen auszuhalten und nach Leer zurückzukehren.
Der Lebenslauf der Liesel Aussen in einer Zeitleiste, erarbeitet von AG-Teilnehmern aus dem 6. Jahrgang
Der zweite Name ist Liesel Aussen. Die AG hat sich mit dem tragischen Schicksal eines kleinen Mädchens jüdischen Glaubens auseinandergesetzt, das nicht weit von der Stadtverwaltung mit seinen Eltern und Großeltern in der Rathausstrasse 22/24 wohnte. Im Foyer des Erdgeschosses ist ein Exponat positioniert, das die Lebenswelt von Liesel Aussen illustriert. Genauer gesagt, das Ausstellungsstück zeigt das eingeschränkte Umfeld des Mädchens in den 30er Jahren, das unter den Diskriminierungen und der antisemitischen Gesetzgebung des NS-Staates leiden musste. Bereits unmittelbar nach ihrer Geburt, am 3. März 1936, hatte der zuständige Standesbeamte aus Übereifer und Opportunismus, den nationalsozialistischen Geist der Zeit entsprechend reagieren wollen. Er hat bei der Geburtsanzeige hier im Rathaus dem Kind den mutmaßlich deutschen Namen Liesel verwehrt - und damit einen Teil der eigenen Identität verweigert.
Der erste Teil der Ausstellung wird im Foyer des alten Rathauses präsentiert: als allgemeine Einführung dient eine Darstellung zur Machtergreifung in Leer. Dahinter stehen die Exponate, die Liesel Aussens Schicksal dokumentieren.
Auch wenn die übergeordneten Behörden auf Betreiben der Eltern Alfred und Paula Aussen letztlich anders entschieden - die Anweisung von Oben kam dem Standesamt Leer entgegen und ließ die ursprünglich gewählte Aussprache und Schreibung des Namens nicht zu. Aus Liesel wurde Lisel. In der Geburtsanzeige wurde das „e“ einfach durchgestrichen – ein höchst unübliches Vorgehen in einem amtlichen Dokument. Auffällig an der offiziellen Begründung ist, dass nicht der gewünschte Name wie selbstverständlich zugestanden werden sollte, sondern dass es im Jahre 1936 nur noch keine gesetzliche Grundlage für eine Beschränkung der freien Wahl eines deutschen Namens für jüdische Bewohner des Reichsgebiets gäbe. Der einfache Standesbeamte wurde getadelt, weil er die Hierarchie der NS- Instanzen auf Reichsebene missachtet und vorschnell gehandelt hatte.
Heute wissen wir, dass jene Stigmatisierung für die nahe Zukunft beabsichtigt war: tatsächlich mussten ab August 1938 alle jüdischen Männer in amtlichen Dokumenten zwischen Vor- und Zunamen „Israel“ und alle jüdischen Frauen den Beinamen „Sara“ eintragen lassen. Anfang Oktober des gleichen Jahres wurden die Pässe der deutschen Juden mit einem „J“ gekennzeichnet – und gebrandmarkt.
Zu diesem Zeitpunkt war Liesel bereits mit ihren Eltern nach Winschoten emigriert. Die Großeltern, die in dieser Strasse ein Textilgeschäft führten, wollten ihre Heimatstadt nicht verlassen. Erst nach den Schrecken der Reichspogromnacht floh auch Familie Aron in die Niederlande zu ihrer Tochter Paula. Doch nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 waren sie auch im Nachbarland nicht mehr sicher.
Teilnehmer des Seminarfaches und der Arbeitsgemeinschaft sind auf den Spuren von Liesel Aussen zur heutigen Gedenkstätte Westerbork und dem angegliederten Archiv gefahren. Wir wissen heute, dass Alfred Aussen als erster der Familie abgeholt und im August des Jahres 1942 in das Sammellager Westerbork gebracht wurde. Zwei Monate später mussten Paula und Liesel folgen. Erst nach mehreren Umzügen innerhalb des Lagers durften Mutter und Kind mit dem Ehemann und Vater in eine gemeinsame Wohnbaracke ziehen. Knapp ein halbes Jahr später wurde die Kleinfamilie am 20. Februar 1943 in das von der SS geführte Konzentrationslager Herzogenbusch auf dem Gebiet der Gemeinde Vught verlegt. Alfred Aussen musste sodann im Außenlager Moordeich Schwerstarbeit leisten.
Auch Gedichtfragmente von Else Laske Schüler und Mascha Kaleko illustrieren das Thema der Ausstellung
Wir können erschließen, dass Liesel und Paula Zeugen der großen Kindertransporte von Vught geworden sind: die hygienischen Bedingungen des Gefangenenlagers hatten sich derart verschlechtert, dass sich die (Kinder-)krankheitsfälle dramatisch mehrten. Daraufhin beschloss die SS, dass alle Kinder vom Säuglingsalter bis zum 16. Lebensjahr Vught in Begleitung eines Elternteils verlassen sollten. Am 6. und 7. Juni 1943 wurden über 3000 Menschen, unter ihnen 1269 Kinder, nach Sobibor deportiert und unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast. Wir wissen nicht, ob Liesel sich an diesen zwei Tagen verstecken konnte – oder ob man sie wegen der Stellung des Vaters nicht in den Transportlisten aufgenommen hatte. Sie wurde aber nicht verschont.
Was bleibt?: Fotos aus dem Album der Familie Aussen Das einzige Portrait, das wir von Liesel haben, ist unten links zu erkennen.
Am 3. Juli 1943 musste sie mit ihren Eltern für ein paar Tage wieder zurück zum Durchgangslager Westerbork fahren. Am 20. Juli 1943 wurde die Familien Aussen und Aron über Deutschland nach Sobibor deportiert. Der Zug hat wahrscheinlich Leer passiert. Liesel war sieben Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und Großeltern im Vernichtungslager zu Tode kam.
Wir sind glücklich, dass Herr Bert Aussen sowie Frau Carrie Bosmann unserer Einladung zur Ausstellungseröffnung gefolgt sind.
Wir hatten lange keine Fotodokumente von Liesel. In dieser Zeit entstanden in der AG Plakate mit Lebenslauf, Gedichten und Zeichnungen von dem „jüdischen Mädchen ohne Namen“, die alle kein Gesicht zeigten bzw. nicht zeigen konnten. Wir sind besonders glücklich, dass wir zu dem Cousin von Liesel Aussen, Herrn Bert Aussen, sowie zur Großcousine, Frau Carrie Bosmann, Kontakte knüpfen konnten. Sie haben uns dankenswerterweise Fotodokumente zu kommen lassen, u. a. das einzig erhaltene Portrait von Liesel. Im Original entspricht es der Größe einer Briefmarke. Die Schüler haben diese Aufnahme im Raster vergrößert und die Einzelteile wie ein Puzzle zusammengesetzt und aufgeklebt. Das Ergebnis können Sie unten in der Eingangshalle des Rathauses sehen, wenn Sie die Ausstellung betrachten möchten. Wir möchten Sie dazu recht herzlich einladen!
Im Vordergrund ist das vergrößerte Foto von Liesel Aussen zu erkennen, im Hintergrund sieht man jenes Exponat, welches die eingeschränkte Lebenswelt des jüdischen Mädchens in Leer Anfang der 30er Jahre präsentiert. Kleine elektrische Glühbirnen leuchten bei Bedarf auf dem zeitgenössischen Stadtplan und zeigen Liesels Aufenthaltsorte in ihrer Heimatstadt.
Text und Fotos: Claudia Lax